AM LAGERFEUER
Das
heruntergebrannte Feuer pulsierte wie das Herz eines riesigen
Tieres. Gelegentlich lösten sich goldene Funken, die über das Holz
hinwegrasten, bevor sie in einem weiß glühenden Spalt
verschwanden.
Die glimmenden Reste des Feuers, das Eragon
und Roran geschürt hatten, warfen einen schwachen rötlichen Schein
auf die Umgebung. Er ließ einen Streifen steiniger Erde erkennen,
einige pulvergraue Sträucher, die schattigen Umrisse eines etwas
abseitsstehenden Wacholderbaums und dann nichts mehr.
Eragon hatte seine nackten Füße dem
rubinroten Glutnest entgegengestreckt und genoss die Wärme. Mit dem
Rücken lehnte er an den knorrigen Schuppen von Saphiras breitem
rechten Vorderbein. Roran saß ihm gegenüber auf der eisenharten,
sonnengebleichten, vom Wind abgewetzten Rinde eines uralten
Baumstumpfs. Wenn Roran sich bewegte, gab der Stumpf jedes Mal ein
klagendes Ächzen von sich, bei dem Eragon sich am liebsten die
Ohren zugehalten hätte.
Im Augenblick jedoch herrschte Stille.
Selbst das Holz schwelte lautlos. Roran hatte nur längst
abgestorbene, völlig trockene Äste gesammelt, damit das Feuer nicht
rauchte, was feindliche Späher vielleicht bemerkt hätten.
Eragon war gerade damit fertig, Saphira die
Ereignisse des Tages zu schildern. Normalerweise brauchte er ihr
nicht zu erzählen, was er erlebt hatte, da alle Gedanken,
Empfindungen und Sinneseindrücke zwischen ihnen hin und her flossen
wie Wasser von einem Seeufer zum anderen. Dieses Mal war es nötig,
denn Eragon hatte seinen Geist auf ihrer Erkundungstour sorgfältig
abgeschirmt. Nur bei seinem Vorstoß in den Unterschlupf der Ra’zac
war er ungeschützt gewesen.
Nach einer längeren Gesprächspause gähnte
Saphira und entblößte ihre furchterregenden
Reißzähne. Sie mögen grausam und bösartig
sein, aber mich beeindruckt, dass die Ra’zac ihre Opfer derart
behexen können, dass sie gefressen
werden wollen. So gesehen sind
sie große Jäger... Vielleicht sollte ich das irgendwann auch mal
versuchen.
Aber nicht mit
Menschen, sah Eragon sich genötigt
hinzuzufügen. Versuch es stattdessen mit
einem Schaf.
Menschen, Schafe:
Welchen Unterschied macht das schon für einen
Drachen? Dann stieß sie tief aus ihrer Kehle ein
polterndes Lachen aus, das Eragon an Donner erinnerte.
Er beugte sich vor, um sein Gewicht von
Saphiras scharfkantigen Schuppen zu nehmen, und griff nach dem
Rotdornstab, der neben ihm auf dem Boden lag. Er rollte ihn
zwischen den Handflächen und bewunderte das Spiel des Lichts auf
dem polierten Wurzelknauf und der am Stabende aufgesetzten, stark
zerkratzten Eisenspitze.
Roran hatte ihm den Stab in die Hand
gedrückt, bevor sie die Varden auf den Brennenden Steppen verlassen
hatten, und gesagt: »Hier! Den hat Fisk mir gemacht, nachdem der
Ra’zac mir in die Schulter gebissen hatte. Ich weiß, du hast dein
Schwert verloren, und ich dachte, du könntest ihn brauchen... Falls
du dir ein neues Schwert zulegen willst, ist das auch in Ordnung.
Aber ich habe festgestellt, dass es kaum einen Kampf gibt, den man
nicht mit einem guten Stock gewinnen kann.« Da auch Brom immer
einen Stab getragen hatte, beschloss Eragon, den Rotdornstab einem
neuen Schwert vorzuziehen. Er spürte ohnehin kein Bedürfnis, sich
mit einer Klinge zu begnügen, die weniger machtvoll war als
Zar’roc. In dieser Nacht hatte er den Stab und den Stiel von Rorans
Hammer mit verschiedenen Schutzzaubern belegt, damit beide nicht
mehr brechen konnten, außer unter extremster Belastung.
Eragon wurde von einer Reihe ungebetener
Erinnerungen überwältigt: Ein düsterer
orangeroter Himmel rauschte an ihm vorbei, als Saphira bei der
Verfolgung des roten Drachen und seines Reiters in die Tiefe
hinabstieß. Der Wind heulte ihm in den
Ohren... Seine Finger wurden taub
durch die Wucht, mit der die Schwerter aufeinanderprallten, als er
am Boden gegen jenen Drachenreiter kämpfte... Mitten im Duell riss
er seinem Gegner den Helm vom Kopf und erkannte, dass er seinem tot
geglaubten einstigen Freund und Reisegefährten Murtagh
gegenüberstand... Murtaghs höhnischer Blick, als er Zar’roc an sich
nahm und erklärte, als Eragons älterer Bruder der rechtmäßige Erbe
der roten Klinge zu sein...
Eragon blinzelte verwirrt, als das
Schlachtengetöse verklang und der Geruch des Blutes dem angenehmen
Duft des Wacholderholzes wich. Er fuhr sich mit der Zunge über die
Zähne, um den bitteren Geschmack nach Galle loszuwerden.
Murtagh.
Allein der Name weckte in Eragon eine Unzahl
widerstreitender Gefühle. Einerseits mochte er ihn. Murtagh hatte ihn und Saphira
nach ihrem ersten unseligen Besuch in Dras-Leona vor den Ra’zac
gerettet. Murtagh hatte sein Leben riskiert, um ihn - Eragon - aus
Gil’ead herauszuholen. Er hatte sich bei der Schlacht um Farthen
Dûr mehr als ehrenhaft geschlagen. Und trotz der schweren Strafe,
die ihn dafür ohne Zweifel erwartete, hatte er Galbatorix’ Befehle
in einer Weise interpretiert, die es ihm erlaubte, Eragon und
Saphira nach der Schlacht auf den Brennenden Steppen ziehen zu
lassen. Es war nicht Murtaghs Schuld, dass die Zwillinge ihn
entführt hatten, dass der rote Drache Dorn für ihn geschlüpft war
oder Galbatorix ihre wahren Namen herausgefunden und Murtagh und
Dorn damit einen Treueschwur in der alten Sprache abgerungen
hatte.
An nichts von alledem traf Murtagh eine
Schuld. Er war ein Opfer des Schicksals, war es seit dem Tag seiner
Geburt gewesen.
Und dennoch... Murtagh mochte Galbatorix
gegen seinen Willen dienen, und er mochte die Gräueltaten
verabscheuen, die zu begehen der König ihn zwang. Aber ein Teil von
ihm schien an der neuen Macht Gefallen zu finden. Bei der Schlacht
auf den Brennenden Steppen zwischen den Varden und dem Imperium
hatte Murtagh sich den Zwergenkönig Hrothgar herausgegriffen und
ihn aus der Ferne mittels Magie umgebracht, ohne dass Galbatorix
ihm den Befehl dazu erteilt hätte. Er hatte Eragon und Saphira
gehen lassen, aber erst nachdem er sie in einem brutalen
Kräftemessen besiegt und Eragon ihn anschließend angefleht hatte,
ihnen die Freiheit zu schenken.
Und Murtagh hatte sich sichtlich an Eragons
Qualen ergötzt, als er ihm offenbarte, dass sie beide Söhne Morzans
waren - des ersten und letzten der dreizehn Drachenreiter, der
Abtrünnigen, die ihre Gefährten an Galbatorix verraten
hatten.
Heute, vier Tage nach der Schlacht, fiel
Eragon eine weitere mögliche Erklärung für Murtaghs Verhalten
ein: Vielleicht war es für ihn eine
Erleichterung, endlich einem anderen Menschen dabei zuzuschauen,
wie er die gleiche schreckliche Last schultern musste, die Murtagh
bereits sein ganzes Leben lang trug.
Ganz gleich, ob das nun stimmte oder nicht,
Eragon vermutete, dass Murtagh seine neue Rolle aus demselben Grund
annahm, aus dem ein Hund, der grundlos geprügelt wird, sich eines
Tages gegen seinen Herrn wendet und ihn anfällt. Murtagh hatte
wieder und wieder Prügel einstecken müssen, und nun hatte er die
Gelegenheit, es einer Welt heimzuzahlen, die ihm nicht die
geringste Güte entgegengebracht hatte.
Doch egal, was noch an Gutem in Murtaghs
Herzen verborgen sein mochte, er und Eragon waren dazu verdammt,
Todfeinde zu sein, denn Murtaghs in der alten Sprache geleisteter
Treueschwur kettete ihn mit unzerstörbaren Banden an Galbatorix -
in alle Ewigkeit.
Hätte er nur nicht
Ajihad bei der Jagd nach den Urgals unter Farthen Dûr begleitet.
Oder wenn ich nur ein bisschen schneller gewesen wäre, hätten die
Zwillinge...
Eragon, sagte
Saphira.
Er riss sich zusammen und nickte, dankbar
für Saphiras Ermahnung. Eragon bemühte sich nach Kräften, nicht
ständig über Murtagh oder ihre gemeinsamen Eltern zu grübeln, aber
die Gedanken überfielen ihn oft gerade dann, wenn er am wenigsten
damit rechnete.
Eragon nahm einen tiefen Atemzug und ließ
die Luft langsam ausströmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann
versuchte er, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren, aber
es gelang ihm nicht.
Am Morgen nach der gewaltigen Schlacht auf
den Brennenden Steppen - als die Varden sich neu formierten, um die
Truppen des Imperiums zu verfolgen, die sich den Jiet-Strom entlang
auf dem Rückzug befanden - hatte Eragon Nasuada und Arya
aufgesucht, ihnen Rorans Situation geschildert und um Erlaubnis
gebeten, seinem Cousin zu helfen. Er bekam sie nicht. Beide Frauen
sprachen sich vehement dagegen aus, und Nasuada bezeichnete den
Plan gar als »undurchdachte Torheit, die im Falle eines Scheiterns
für alle in Alagaësia katastrophale Folgen haben würde!«
Die Diskussion zog sich so lange hin, dass
Saphira sie schließlich mit einem Aufbrüllen beendete, das die
Wände im Zelt der Varden-Anführerin erbeben ließ. Dann sagte die
Drachendame: Ich bin verwundet und müde.
Und Eragon hat die Sache viel zu umständlich erklärt. Wir haben
Besseres zu tun, als wie Dohlen herumzukreischen, findet ihr
nicht?... Gut, dann hört jetzt mir zu.
Es war schwierig, einem Drachen zu
widersprechen.
Im Detail waren Saphiras Ausführungen
komplex, aber die zugrunde liegende Struktur ihres Vortrags war
leicht nachzuvollziehen. Saphira unterstützte Eragon, weil sie
begriff, wie viel ihm die geplante Mission bedeutete. Eragon
wiederum unterstützte Roran, weil er wusste, dass der auch ohne ihn
Katrinas Fährte folgen würde und dass sein Cousin auf sich allein
gestellt nicht gegen die Ra’zac bestehen konnte. Und solange das
Imperium Katrina gefangen hielt, wäre Roran - und dadurch auch
Eragon - anfällig für Galbatorix’ Erpressungsversuche. Falls der
Tyrann drohte, Katrina zu töten, würde Roran nichts anderes übrig
bleiben, als dessen Forderungen zu erfüllen.
Deshalb wäre es doch am klügsten, diese
Schwachstelle in ihrer Verteidigungslinie zu beseitigen, bevor ihre
Feinde sich diesen Vorteil zunutze machten.
Und der Zeitpunkt für die Rettungsaktion sei
denkbar günstig, erklärte Saphira. Weder Galbatorix noch die Ra’zac
würden mit einem Überfall im Herzen des Imperiums rechnen, während
die Varden nahe der Grenze zu Surda gegen Galbatorix’ Truppen
kämpften. Man hatte Murtagh und Dorn in Richtung Urû’baen
davonfliegen sehen, wo sie sich zweifellos ihrer Bestrafung stellen
mussten. Nasuada und Arya waren mit Eragon einer Meinung, dass
Murtagh und sein Drache danach vermutlich nach Norden weiterziehen
würden, um dort Königin Islanzadi und die von ihr befehligte
Elfen-Streitmacht zu bekämpfen, sobald diese ihre Gegenwart
offenbarte und zuschlug. Außerdem wäre es klug, die Ra’zac
möglichst schnell zu eliminieren, bevor sie anfingen, die Krieger
der Varden zu terrorisieren und zu demoralisieren.
Dann wies Saphira höchst diplomatisch darauf
hin, dass, falls Nasuada ihre Autorität als Eragons Lehnsherrin in
die Waagschale werfen und ihm den Einsatz verbieten würde, es ihre
Beziehung mit Groll und Unmut vergiften könnte, was womöglich der
Sache der Varden schaden würde. Aber,sagte Saphira, es
ist deine Entscheidung, Nasuada. Wenn du möchtest, dann behalte
Eragon hier. Doch seine Verpflichtungen sind nicht die meinen. Ich
für meinen Teil habe beschlossen, Roran zu begleiten. Es scheint
mir ein spannendes Abenteuer.
Ein Lächeln erschien auf Eragons Lippen, als
er sich an die Szene erinnerte.
Das Gewicht von Saphiras Worten zusammen mit
ihrer unwiderlegbaren Logik hatte Nasuada und Arya schließlich
überzeugt, ihr Einverständnis zu geben, wenn auch
widerwillig.
Hinterher hatte Nasuada erklärt: »Wir
vertrauen in dieser Sache eurem Urteil, Eragon, Saphira. Zu unser
beiderseitigem Wohl hoffe ich, dass die Mission gelingt.« Ihr
Tonfall ließ Eragon im Unklaren darüber, ob ihre Worte ein von
Herzen kommender Wunsch oder eine versteckte Drohung waren.
Den Rest des Tages hatte Eragon damit
verbracht, Vorräte zu besorgen, gemeinsam mit Saphira Landkarten
des Imperiums zu studieren und einige von ihm als nötig erachtete
Schutzzauber zu wirken, beispielsweise um zu verhindern, dass
Galbatorix und seine Lakaien Roran mit der Traumsicht
orteten.
Am nächsten Morgen waren Eragon und Roran
auf Saphiras Rücken geklettert, dann war sie in die Luft geschnellt
und über die orangefarbenen Wolken gestiegen, die die Brennenden
Steppen verdunkelten. Sie flog ohne Unterbrechung, bis die Sonne
das Himmelsgewölbe überquert hatte und hinter dem Horizont versank,
um von dort aus ein prachtvolles rotgelbes Feuerlicht über die
Landschaft zu werfen.
Der erste Abschnitt ihrer Reise führte sie
an die Grenze des Imperiums, wo kaum Menschen lebten. Dann wandten
sie sich nach Norden in Richtung Dras-Leona und Helgrind. Ab da
waren sie nur noch nachts unterwegs, um nicht von den Bewohnern der
vielen kleinen Dörfer bemerkt zu werden, die sich über das Grasland
verteilten, das zwischen ihnen und ihrem Ziel lag.
Eragon und Roran mussten sich in dicke
Umhänge und Pelze hüllen und trugen Wollhandschuhe und Filzmützen,
denn Saphira flog höher, als die meisten eisbedeckten Berggipfel
reichten, wo die Luft dünn und trocken war und ihnen in den Lungen
brannte. Sollte ein Bauer, der auf dem Feld ein krankes Kalb
pflegte, oder ein scharfäugiger Wachmann auf seiner Runde zufällig
zum Himmel aufschauen, würden sie nicht größer als ein Adler
erscheinen.
Wohin sie auch kamen, überall erblickte
Eragon Spuren des Krieges, der nun in vollem Gange war:
Soldatenlager, mit Vorräten beladene Wagen, für die Nacht zu einem
Kreis zusammengestellt, und Scharen von Männern, die in eisernen
Halsschellen aus ihren Dörfern geführt wurden, um für Galbatorix zu
kämpfen. Die Menge an Ausrüstung und Kriegern, die man gegen die
Rebellen aufbot, war beängstigend.
Kurz vor Ende der zweiten Nacht waren in der
Ferne die gesplitterten Granittürme des Helgrind aufgetaucht:
dunkel und Unheil verkündend im aschfarbenen Licht des nahen
Morgens. Saphira war in jener Schlucht gelandet, in der sie jetzt
am Feuer saßen. Sie hatten sich ausgeruht und fast den ganzen Tag
über geschlafen, bis sie ihre Erkundungen aufnahmen.
Eine wirbelnde Fontäne bernsteinfarbener
Funken stob auf, als Roran einen Ast auf das heruntergebrannte Holz
warf. Er fing Eragons Blick auf und zuckte mit den Schultern. »Mir
ist kalt.«
Bevor Eragon etwas entgegnen konnte, vernahm
er ein schabendes Geräusch, als würde jemand ein Schwert
zücken.
Ohne zu überlegen, hechtete er in die
entgegengesetzte Richtung, rollte sich ab und kam in geduckter
Haltung auf die Füße, den Rotdornstab hochgerissen, um ein
herabsausendes Schwert abzuwehren. Roran war fast genauso schnell.
Er packte seinen Schild, sprang auf und zog den Hammer aus dem
Gürtel; alles in einer einzigen fließenden Bewegung.
Reglos warteten sie auf den Angriff.
Eragons Herz pochte und seine Muskeln
bebten, während er die Dunkelheit nach dem leisesten Anzeichen
einer Bewegung absuchte.
Ich rieche
nichts, sagte Saphira.
Als mehrere Minuten verstrichen, ohne dass
etwas geschah, schickte Eragon seinen Geist in die umliegende
Landschaft aus. »Da ist niemand«, sagte er. Er beschwor seine Magie
herauf: »Brisingr
raudhr!« Einige Schritte vor ihm tauchte ein schwaches
rotes Werlicht auf. Es schwebte auf Augenhöhe in der Luft und
erfüllte die Schlucht mit einem wässrigen Leuchten. Er drehte sich,
und die Lichtkugel folgte ihm, als wäre sie durch einen
unsichtbaren Stab mit Eragon verbunden.
Zusammen schlichen er und Roran auf die
Stelle zu, von der das Geräusch gekommen war, folgten dem
ostwärtigen Lauf der Schlucht. Sie hielten ihre Waffen erhoben und
blieben nach jedem Schritt kampfbereit stehen. Etwa zehn Schritte
weg vom Lager hob Roran die Hand und bedeutete Eragon, stehen zu
bleiben. Er zeigte auf eine Schieferplatte etwas abseits im Gras.
Sie wirkte seltsam fehl am Platz.
Roran ging hinüber, rieb mit einem kleineren
Schieferstück über die Platte und erzeugte das gleiche Geräusch,
das sie aufgeschreckt hatte.
»Sie muss heruntergestürzt sein«, sagte
Eragon und betrachtete die Ränder der Schlucht. Das Werlicht ließ
er verlöschen.
Roran nickte und klopfte sich den Staub von
der Hose.
Während er zu Saphira zurückging, überlegte
Eragon, wie überhastet sie reagiert hatten. Noch immer zog sein
Herz sich bei jedem Schlag zu einem harten Klumpen zusammen, seine
Hände zitterten und am liebsten wäre er in die Wildnis gestürmt und
mehrere Meilen gerannt, ohne stehen zu bleiben. Früher wären wir nicht so
zusammengeschreckt, dachte er. Der Grund für ihre
Nervosität lag auf der Hand: Jeder ihrer zahlreichen Kämpfe hatte
ihnen einen Teil ihrer Gelassenheit geraubt. Zurückgeblieben waren
nichts als blanke Nerven, die schon auf den kleinsten Reiz
reagierten.
Roran musste sich ähnliche Gedanken gemacht
haben, denn er fragte: »Siehst du sie?«
»Wen?«
»Die Männer, die du getötet hast. Träumst du
von ihnen?«
»Manchmal.«
Das pulsierende Glühen des Holzes
beleuchtete Rorans Gesicht von unten, sodass über dem Mund und auf
der Stirn tiefe Schatten lagen, die seinen halb geschlossenen Augen
einen niedergeschlagenen Ausdruck verliehen. Er sprach langsam, als
ob es ihm schwerfiele, darüber zu reden. »Ich wollte nie ein
Krieger sein. Als Kind habe ich von ruhmreichen Kämpfen geträumt,
so wie jeder Junge es tut, aber wichtig war mir immer die Arbeit
auf dem Feld. Das und unsere Familie... Und jetzt habe ich
getötet... Ich habe getötet und getötet und du hast sogar noch mehr
Menschen umgebracht.« Sein Blick richtete sich auf einen fernen
Punkt, den nur er sehen konnte. »Da waren diese beiden Männer in
Narda... Hab ich dir von ihnen erzählt?«
Eragon kannte die Geschichte bereits, doch
er schüttelte den Kopf und schwieg.
»Die Wachen am Haupttor... Sie waren zu
zweit und der rechte Mann hatte schlohweißes Haar. Ich weiß es
noch, weil er nicht älter als vierundzwanzig oder fünfundzwanzig
gewesen sein konnte. Sie trugen Galbatorix’ Wappen, klangen aber,
als ob sie aus Narda stammen würden. Es waren keine Berufssoldaten.
Sie waren bloß einfache Männer, die beschlossen hatten, ihre Heimat
vor Urgals, Piraten und Banditen zu schützen... Wir wollten ihnen
nichts tun. Ich schwöre dir, Eragon, das war nie Teil unseres
Plans. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Sie haben mich erkannt.
Bei dem Weißhaarigen habe ich unterm Kinn zugestochen... Es war so,
wie wenn Vater einem Schwein die Kehle aufschnitt. Dem anderen habe
ich den Schädel eingeschlagen. Ich spüre heute noch, wie der
Knochen brach... Ich kann mich an jeden einzelnen Mann erinnern,
den ich getötet habe, von Carvahall bis zu den Brennenden
Steppen... Weißt du, manchmal kann ich nicht einschlafen, denn wenn
ich die Augen zumache, erstrahlt in meinem Kopf das Feuer, das wir
im Hafen von Teirm gelegt haben. In solchen Momenten glaube ich,
verrückt zu werden.«
Eragon bemerkte plötzlich, dass er den Stab
so fest umklammert hielt, dass seine Knöchel ganz weiß waren und
die Sehnen an den Handgelenken hervortraten. »Ich weiß, was du
meinst«, sagte er. »Zuerst waren es nur Urgals. Dann waren es
Menschen und Urgals und nun bei dieser letzten Schlacht... Ich
weiß, wir tun das Richtige, aber richtig bedeutet nicht, dass
es einfach ist. Aufgrund
unserer besonderen Stellung erwarten die Varden von Saphira und
mir, in der ersten Reihe ihrer Streitmacht zu marschieren und ganze
Bataillone auszulöschen. Das tun wir. Wir haben es getan.« Er
stockte und verstummte.
Gewalt begleitet alle
großen Umwälzungen, jeden großen Wandel, sagte Saphira zu
ihnen beiden. Wir haben mehr als genug
davon miterlebt, denn wir selbst sind die Boten dieses Wandels. Ich
bin ein Drache und bereue nicht den Tod derer, die uns in Gefahr
bringen. Die beiden Wachen in Narda getötet zu haben, mag dir zwar
nicht zum Ruhm gereichen, du hast mit dieser Tat aber auch keine
Schuld auf dich geladen. Du musstest es tun. Wenn du kämpfst,
Roran, verleiht dann die grimmige Freude auf eine Schlacht deinen
Beinen keine Flügel? Hast du nie die Kampfeslust verspürt, wenn du
einem würdigen Gegner gegenübertrittst, und die Genugtuung, wenn
sich die Leichname deiner Feinde vor dir auftürmen? Eragon, du hast
es schon oft erlebt. Hilf mir, es deinem Cousin zu
erklären.
Eragon starrte auf das glühende Holz.
Saphira hatte eine Wahrheit ausgesprochen, die er nicht anerkennen
wollte. Schon gar nicht, indem er ihr beipflichtete, dass man
Gefallen am Ausüben von Gewalt finden konnte. Das würde aus ihm
einen Menschen machen, für den er nur Verachtung übrighätte.
Deshalb schwieg er. Roran schien genauso zu empfinden.
Mit weicherer Stimme sagte
Saphira: Sei nicht wütend. Es war nicht
meine Absicht, dich zu verärgern... Ich vergesse manchmal, dass
diese Empfindungen noch immer ziemlich neu für dich sind, während
ich seit dem Tag, an dem ich geschlüpft bin, mit Zähnen und Klauen
ums Überleben kämpfe.
Eragon erhob sich, ging zu den Satteltaschen
hinüber und holte eine kleine Tonflasche heraus, die Orik ihm vor
ihrer Abreise gegeben hatte. Dann ließ er zwei große Schlucke
Himbeermet in seine Kehle laufen. Wärme breitete sich in seinem
Bauch aus. Eragon verzog das Gesicht und reichte die Flasche Roran,
der ebenfalls von dem Gebräu trank.
Mehrere Schlucke Met später war Eragons
düstere Stimmung verflogen und er sagte: »Wir könnten morgen ein
Problem bekommen.«
»Was für ein Problem?«
Eragon richtete seine Worte auch an Saphira.
»Weißt du noch, wie ich meinte, wir - Saphira und ich - würden mit
den Ra’zac mühelos fertig werden?«
»Ja.«
Werden wir
auch, sagte Saphira.
»Nun, ich habe darüber nachgedacht, während
wir den Helgrind ausgekundschaftet haben, und jetzt bin ich mir
nicht mehr so sicher. Es gibt fast endlos viele Möglichkeiten,
Dinge mit Magie zu bewerkstelligen. Wenn ich zum Beispiel ein Feuer
machen möchte, dann könnte ich das mit Hitze tun, die ich der Luft
oder dem Boden entziehe; ich könnte eine Flamme aus reiner Energie
erschaffen; ich könnte einen Blitzschlag herabfahren lassen; ich
könnte ein Bündel von Sonnenstrahlen auf einen einzigen Punkt
richten; ich könnte Reibung einsetzen und so weiter.«
»Ja, und?«
»Das Problem ist, ich kann zwar die
verschiedensten Zauber wirken, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen,
aber um alle diese Zauber zu blockieren,braucht man möglicherweise nur einen
einzigen Gegenzauber. Wenn man verhindert, dass eine magische
Handlung überhaupt stattfindet, braucht man keinen
maßgeschneiderten Gegenzauber, um den jeweiligen Zauber zu
bekämpfen.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was das
Ganze mit morgen zu tun hat.«
Ich
schon, sagte Saphira zu ihnen beiden. Sie hatte den
Zusammenhang sofort begriffen. Es
bedeutet, dass Galbatorix im Laufe des letzten
Jahrhunderts...
»... eine ganze Reihe von Schutzzaubern um
die Ra’zac platziert haben könnte...«
... die sie vor
allen …
»... möglichen magischen Attacken
abschirmen. Wahrscheinlich werde ich nicht...«
... in der Lage sein,
sie mit irgendwelchen...
»... Worten des Todes zu vernichten, ebenso
wenig...«
... mit
Angriffstechniken, die wir uns neu ausdenken. Es könnte
sein...
»... dass wir uns auf unsere gute
alte...«
»Hört auf!«, rief Roran. Er lächelte
gequält. »Bitte, hört auf. Mir schwirrt der Kopf, wenn ihr das
tut.«
Eragon hielt mit offenem Mund inne. Bis zu
diesem Moment hatte er gar nicht bemerkt, dass er und Saphira
abwechselnd sprachen. Die Erkenntnis freute ihn: Es zeigte, dass
sie eine neue Stufe der Zusammenarbeit erreicht hatten und
gemeinsam wie eine Einheit agierten - und dadurch weitaus
machtvoller waren, als jeder alleine gewesen wäre. Gleichzeitig
beunruhigte es ihn auch ein bisschen, wenn er daran dachte, dass
eine so enge Partnerschaft den Beteiligten unweigerlich einen Teil
ihrer Persönlichkeit rauben musste.
Er klappte den Mund zu und lächelte. »Tut
mir leid. Was mir Sorgen bereitet, ist Folgendes: Falls Galbatorix
den Weitblick hatte, gewisse Vorkehrungen zu treffen, dann könnte
der Einsatz gewöhnlicher Waffen das einzige Mittel sein, um die
Ra’zac zu vernichten. Sollte es tatsächlich so kommen...«
»... dann stünde ich euch morgen nur im
Weg.«
»Unsinn. Du magst langsamer sein als die
Ra’zac, aber ich hege keinen Zweifel, dass du sie mit der Waffe
deiner Wahl das Fürchten lehren wirst, Roran Hammerfaust.« Das
Kompliment schien Roran zu freuen. »Die größte Gefahr für dich
besteht darin, dass es den Ra’zac oder ihren Flugrössern gelingt,
dich von mir und Saphira zu trennen. Je enger wir zusammenbleiben,
desto sicherer sind wir. Saphira und ich werden versuchen, unsere
Gegner permanent zu beschäftigen, aber der eine oder andere könnte
uns schon mal entwischen. Also sei auf der Hut.«
Zu Saphira sagte Eragon: Ich bin mir sicher, dass ich die Ra’zac mit einem
Schwert erledigen könnte, aber ich weiß nicht, ob ich zwei Wesen,
die so schnell sind wie Elfen, mit nichts weiter als einem Stab
besiegen kann.
Du warst derjenige, der
darauf bestanden hat, diesen trockenen Ast zu tragen anstatt einer
richtigen Waffe, entgegnete sie. Ich habe dich gewarnt, dass das gegen Feinde nicht
reichen könnte, die so gefährlich sind wie die Ra’zac.
Widerwillig gab Eragon ihr
recht. Falls meine Magie versagt, werden
wir viel verwundbarer sein, als ich erwartet habe... In der Tat
könnte der morgige Tag ein wirklich schlimmes Ende
nehmen.
Roran führte den Teil des Gesprächs fort,
den er hatte hören können. »Diese Magie ist eine haarige
Angelegenheit.« Der Baumstumpf, auf dem er saß, gab ein lang
gezogenes Ächzen von sich, als Roran sich mit den Ellbogen auf den
Knien abstützte.
»Allerdings«, stimmte Eragon zu. »Am
schwierigsten ist es, jeden Zauber, den man benötigen könnte, auch
parat zu haben. Während meiner Ausbildung habe ich ständig
nachgefragt, wie ich worauf zu reagieren hätte und ob ein
gegnerischer Magier nicht einen bestimmten Kniff von mir erwarten
würde und mich so in eine Falle locken könnte.«
»Könntest du mich genauso stark und schnell
machen, wie du es bist?«
Eragon dachte mehrere Minuten über die Frage
nach, bevor er antwortete: »Ich wüsste nicht, wie das funktionieren
soll. Die dafür benötigte Energie muss ja von irgendwoher kommen.
Saphira und ich könnten sie dir zwar geben, aber dann würden wir
genau das Maß an Kraft und Schnelligkeit verlieren, das du
gewinnst.« Er verschwieg seinem Cousin jedoch, dass man auch den
Tieren und Pflanzen in der Umgebung Energie entziehen konnte, wenn
auch zu einem schrecklichen Preis, nämlich dem Tod kleinerer
Geschöpfe, deren Lebenskraft man anzapfte. Diese Technik war ein
großes Geheimnis, und Eragon fand, dass er es nicht leichtfertig
preisgeben sollte, wenn überhaupt. Außerdem würde es Roran nichts
nützen, denn am Helgrind wuchsen zu wenige Pflanzen und lebten zu
wenige Tiere, um den Körper eines Menschen zu versorgen.
»Kannst du mir dann beibringen, wie man
Magie gebraucht?« Als Eragon zögerte, fügte Roran hinzu: »Natürlich
nicht jetzt. Dazu fehlt uns die Zeit, und ich erwarte auch nicht,
dass man über Nacht zum Magier wird. Aber vielleicht irgendwann
mal? Du und ich, wir sind Cousins. In unseren Adern fließt das
gleiche Blut. Und es wäre eine nützliche Fertigkeit.«
»Ich weiß nicht, wie jemand, der kein
Drachenreiter ist, Magie erlernt«, gestand Eragon. »Es ist nichts,
was ich studiert hätte.« Er sah sich kurz um, hob einen flachen,
runden Stein auf und warf ihn Roran zu. »Da, versuch es einfach.
Konzentrier dich darauf, den Stein in der Luft schweben zu lassen,
eine Armlänge über dem Boden, und sag: Stenr rïsa.«
»Stenr
rïsa?«
»Genau.«
Stirnrunzelnd betrachtete Roran den Stein
auf seiner Handfläche, und während Eragon seinen Cousin
beobachtete, fühlte er sich an seine eigene Ausbildung erinnert. Er
verspürte eine nostalgische Sehnsucht nach den Tagen, als Brom ihn
gedrillt hatte.
Rorans Augenbrauen stießen aneinander, seine
Lippen verzogen sich und er knurrte: »Stenr rïsa!«, und zwar mit einer solchen
Intensität, dass Eragon schon fast erwartete, dass der Stein in die
Höhe schießen würde.
Nichts geschah.
Mit einem Gesicht, das noch finsterer war,
wiederholte Roran den Befehl: »Stenr
rïsa!«
Der Stein ließ nicht den Hauch einer
Bewegung erkennen. »Nun«, sagte Eragon, »versuch es einfach weiter.
Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Aber«, und hier
hob er einen mahnenden Finger, »falls es dir gelingen sollte, komm sofort zu
mir, und falls das nicht geht, dann wende dich an einen anderen
Magier. Man kann sich und andere umbringen, wenn man mit Magie
herumexperimentiert, ohne die Regeln zu kennen. Und Folgendes musst
du dir unbedingt merken: Wenn man einen Zauber wirkt, der einen zu
viel Kraft kostet, dann stirbt man. Versuche dich nicht an Aufgaben,
die deine Fähigkeiten übersteigen, versuche nicht, die Toten zum
Leben zu erwecken oder Dinge ungeschehen zu machen.«
Roran nickte, den Blick noch immer auf den
Stein geheftet.
»Wenn wir schon dabei sind, mir fällt gerade
noch etwas viel Wichtigeres ein, was du lernen musst.«
»Ach?«
»Ja, du musst imstande sein, deine Gedanken
vor der Schwarzen Hand, der Du Vrangr Gata und ähnlichen Leuten zu
verbergen. Du weißt jetzt viele Dinge, was den Varden schaden
könnte. Deshalb ist es entscheidend, dass du diese Fertigkeit bei
unserer Rückkehr beherrschst. Solange du dich nicht vor Spionen
schützen kannst, dürfen weder Nasuada noch ich oder irgendjemand
sonst dir Informationen anvertrauen, die unseren Feinden helfen
könnten.«
»Verstehe. Aber warum nennst du ausgerechnet
die Du Vrangr Gata? Sie dienen doch dir und Nasuada.«
»Das stimmt. Aber selbst unter unseren
Verbündeten gibt es gar nicht wenige, die ihren rechten Arm dafür
geben würden, unsere Pläne und Geheimnisse zu erfahren. Und wenn
ich ›unsere‹ sage, dann schließt das dich mit ein. Du bist
jetzt jemand, Roran. Teils
wegen deiner Heldentaten und teils, weil wir miteinander verwandt
sind.«
»Ich weiß. Es ist seltsam, wenn einen Leute
erkennen, denen man noch nie begegnet ist.«
»Stimmt.« Eragon lag noch mehr auf der
Zunge, aber er verkniff sich jede weitere Bemerkung. Jetzt war
nicht der richtige Zeitpunkt, das Thema zu vertiefen. »Nachdem du
nun weißt, wie es sich anfühlt, wenn ein Geist einen anderen
berührt, könntest du eventuell lernen, umgekehrt mit deinem Geist
in ein fremdes Bewusstsein einzudringen.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich diese Fähigkeit
haben möchte.«
»Das spielt keine Rolle. Vielleicht bist du
auch gar nicht imstande dazu.
Bevor du das herausfindest, solltest du dich erst einmal der Kunst
des Abschirmens widmen.«
Sein Cousin hob eine Augenbraue. »Wie
denn?«
»Wähle etwas aus - ein Geräusch, ein Bild,
ein Gefühl, irgendetwas - und lass es in deinem Kopf wachsen, bis
es alle anderen Gedanken verdrängt.«
»Das ist alles?«
»Es ist nicht so leicht, wie es klingt.
Versuch es einfach mal. Wenn du so weit bist, gib mir ein Zeichen,
und dann sehen wir, wie gut du dich schlägst.«
Einige Momente verstrichen. Dann, auf Rorans
Fingerschnippen hin, ließ Eragon sein Bewusstsein auf seinen Cousin
zuschnellen, gespannt darauf, was der vollbracht hatte.
Eragons geistiger Strahl prallte mit voller
Wucht gegen einen Wall aus Rorans Erinnerungen an Katrina und
rutschte daran ab. Es gab keinen Halt, keinen Ansatzpunkt oder
Zugang für ihn und er konnte auch nicht unter der
undurchdringlichen Barriere vor ihm hindurchschlüpfen. In diesem
Augenblick bestand Rorans Wesen allein aus seinen Gefühlen für
Katrina. Seine Abschirmung übertraf alles, was Eragon bis dahin
untergekommen war, denn in Rorans Geist gab es nichts, was er als
Hebel hätte benutzen können, um Kontrolle über seinen Cousin zu
gewinnen.
Dann bewegte Roran sein linkes Bein und das
Holz unter ihm ächzte vernehmlich.
Dadurch zersprang der Wall, gegen den Eragon
sich geschleudert hatte, in Dutzende Stücke, während eine Fülle
widerstreitender Gedanken Roran ablenkte. Was war das... Verdammt! Achte nicht darauf, sonst
bricht er durch. Katrina, denk an Katrina. Ignoriere Eragon. Die
Nacht, als sie meinen Antrag annahm, der Duft des Grases und ihres
Haars... Ist er das? Nein! Konzentrier dich! Nicht...
Eragon nutzte Rorans Verwirrung aus, drang
in seinen Geist ein und machte ihn kraft seines Willens
bewegungsunfähig, bevor sein Cousin sich wieder vor ihm
verschließen konnte.
Das grundlegende
Konzept hast du verstanden, sagte Eragon, dann zog er
sich aus Rorans Kopf zurück und sagte laut: »Aber du musst lernen,
selbst mitten in einer Schlacht deine Konzentration
aufrechtzuerhalten. Du musst lernen zu denken, ohne zu denken... Du
musst dich aller Hoffnungen und Sorgen entledigen und nur den einen
Gedanken in dir tragen, der deinen Schutzwall bildet. Die Elfen
haben mir beigebracht, ein Gedicht oder eine Liedzeile aufzusagen,
irgendetwas, das man ständig wiederholen kann. Das war sehr
hilfreich für mich. Es verhindert, dass der Geist
abschweift.«
»Ich werde daran arbeiten«, versprach
Roran.
Mit ruhigerer Stimme sagte Eragon: »Du
liebst sie aus ganzem Herzen, nicht wahr?« Es war mehr eine
Feststellung als eine Frage, die Antwort lag ja auf der Hand. Das
Thema verunsicherte Eragon ein wenig. Über die Liebe hatten er und
sein Cousin noch nie geredet, ungeachtet der vielen Stunden, die
sie früher damit verbracht hatten, über die Vorzüge der jungen
Frauen in und um Carvahall zu diskutieren. »Wie kam es dazu?«
»Ich mochte sie. Sie mochte mich. Sind
Einzelheiten da so wichtig?«
»Ach komm schon«, sagte Eragon. »Ich war zu
sauer, um dich zu fragen, bevor du nach Therinsford gegangen bist,
und seitdem haben wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich bin
einfach neugierig.«
Die Haut um Rorans Augen straffte sich und
legte sich in viele Fältchen, während er sich die Schläfen
massierte. »Eigentlich gibt’s da nicht viel zu erzählen. Sie hat
mir schon immer gefallen. Es war nicht weiter wichtig, bevor ich
zum Mann wurde, aber nach meiner Initiation begann ich mich zu
fragen, wen ich heiraten würde und wer die Mutter meiner Kinder
werden sollte. Bei einem unserer Besuche in Carvahall beobachtete
ich, wie Katrina neben Lorings Haus stehen blieb und eine Moosrose
pflückte, die im Schatten des Dachfußes wuchs. Sie lächelte,
während sie die Blume betrachtete... Es war so ein zartes und
glückliches Lächeln, dass ich auf der Stelle beschloss, ich würde
sie wieder und wieder dazu bringen, so zu lächeln. Ich wollte
dieses Lächeln jeden Tag bis an mein Lebensende sehen.« In Rorans
Augen schimmerten Tränen, doch im nächsten Augenblick blinzelte er
und sie waren wieder verschwunden. »Ich fürchte, in dieser Hinsicht
habe ich versagt.«
Nach einer angemessenen Pause sagte Eragon:
»Du hast ihr also den Hof gemacht. Aber mal davon abgesehen, dass
ich Katrina immer deine Komplimente ausrichten musste, wie hast du
es im Einzelnen angestellt?«
»Du fragst wie jemand, der Unterweisung
braucht.«
»Ach was. Das bildest du dir bloß
ein...«
»Jetzt bist du aber dran«, sagte Roran. »Ich weiß, wenn du
lügst. Dann grinst du so dümmlich und deine Ohren werden ganz rot.
Die Elfen haben dir vielleicht ein neues Gesicht gegeben, aber
dieser Teil von dir hat sich nicht geändert. Was ist da zwischen
dir und Arya?«
Rorans scharfe Beobachtungsgabe ärgerte
Eragon. »Nichts! Der Mond hat deinen Geist verwirrt.«
»Gib’s zu. Du hängst an ihren Lippen, als
wäre jedes ihrer Worte ein Diamant, und dein Blick klebt an ihr,
als wärst du am Verhungern und sie ein Festmahl, das einen
Zollbreit außerhalb deiner Reichweite steht.«
Graue Rauchwölkchen quollen aus Saphiras
Nüstern, als sie ein ersticktes Hüsteln von sich gab.
Eragon beachtete sie nicht und sagte: »Arya
ist eine Elfe.«
»Und zwar eine wunderschöne. Spitze Ohren
und schräg stehende Augen sind nur geringfügige Make, verglichen
mit ihren zahlreichen Vorzügen. Du siehst ja jetzt selbst aus wie
eine Katze.«
»Arya ist über hundert Jahre alt.«
Roran war baff; seine Augenbrauen hoben sich
und er sagte: »Das glaube ich nicht! Sie steht in der Blüte ihrer
Jugend.«
»Doch, es stimmt.«
»Nun, das mag ja sein. Das sind vielleicht
alles gute Gründe, Eragon, aber das Herz lässt sich nur selten von
der Vernunft leiten. Also, stehst du auf sie oder nicht?«
Falls er auch nur ein
kleines bisschen mehr auf sie stehen würde, sagte Saphira
zu Eragon und Roran, müsste ich Arya
selbst abknutschen.
Saphira! Beschämt schlug Eragon ihr aufs
Bein.
Roran war umsichtig genug, Eragon nicht
weiter aufzuziehen. »Dann beantworte wenigstens meine ursprüngliche
Frage und erzähl mir, wie die Dinge zwischen dir und Arya stehen.
Hast du mit ihr oder ihrer Familie über deine Gefühle gesprochen?
Ich habe festgestellt, wie unklug es ist, in solchen
Angelegenheiten zu lange zu warten.«
»Tja«, sagte Eragon und starrte auf den
langen Rotdornstab. »Ich habe mit ihr gesprochen.«
»Und was kam dabei heraus?« Als Eragon nicht
umgehend antwortete, rief Roran frustriert: »Dir Antworten zu
entlocken, ist anstrengender, als Birka durch den Schlamm zu
ziehen.«
Eragon gluckste bei der Erwähnung Birkas,
eins ihrer Zugpferde.
»Saphira, würdest du bitte dieses Rätsel für
mich lösen? Ich fürchte, ich kriege ansonsten nie eine
zufriedenstellende Erklärung.«
»Es ist vergeblich. Absolut hoffnungslos.
Sie wird mich nicht erhören.« Eragons Stimme klang teilnahmslos,
als spräche er über das Pech eines Fremden, doch in ihm tobte ein
Sturm verletzter Gefühle, so gewaltig und wild, dass er fühlte, wie
Saphira sich etwas aus ihm zurückzog.
»Das tut mir leid.«
Eragon zwang sich, den Kloß
hinunterzuschlucken, der ihm im Hals steckte, und sein wundes Herz
zu ignorieren. »So ist es nun mal.«
»Ich weiß, im Moment erscheint es dir
unmöglich«, sagte Roran, »aber eines Tages wirst du eine andere
Frau kennenlernen, die dich diese Arya vergessen lässt. Es gibt
zahllose unverheiratete Kandidatinnen - und nicht wenige
Verheiratete -, die sich mit Freuden einem Drachenreiter hingeben
würden. Du wirst kein Problem haben, unter all den hübschen Dingern
in Alagaësia die richtige Frau zu finden.«
»Und was hättest du getan, wenn Katrina dich
abgewiesen hätte?«
Die Frage erwischte Roran eiskalt. Es war
offensichtlich, dass er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, wie
er reagiert hätte.
Eragon fuhr fort: »Im Gegensatz dazu, was
du, Arya und alle anderen zu glauben scheinen, ist mir durchaus
bewusst, dass es in Alagaësia noch andere Frauen gibt, die für mich
infrage kämen. Und dass Menschen sich im Leben mehr als einmal
verlieben können, ist mir auch bekannt. Wenn ich meine Zeit in
Gesellschaft der Damen an König Orrins Hof verbrächte, könnte ich
zweifellos an einer von ihnen Gefallen finden, denke ich. Aber so
einfach ist mein Weg nicht. Selbst wenn ich meine Zuneigung einer
anderen schenken könnte - und das Herz ist, wie du ganz richtig
bemerkt hast, ein äußerst widerspenstiges Biest -, bleibt immer
noch die Frage: Sollte ich das?«
»Deine Zunge ist so verschlungen wie die
Wurzeln einer Tanne«, sagte Roran. »Drück dich nicht so rätselhaft
aus.«
»Na gut: Welche Menschenfrau könnte auch nur
im Ansatz begreifen, wer und was ich bin, oder das Ausmaß meiner
Kräfte nachvollziehen? Wer könnte an meinem Leben teilhaben? Nur
wenige und es wären alles Magier. Und wie viele von ihnen oder wie
viele Frauen im Allgemeinen sind unsterblich?«
Rorans raues Lachen hallte durch die enge
Schlucht. »Du könntest ebenso gut darum bitten, dir die Sonne in
die Hosentasche stecken zu dürfen oder...« Er machte eine Pause und
spannte die. Muskeln wie zum Sprung. Dann wurde er unnatürlich
still. »Das kann nicht sein.«
»Doch, es ist so.«
Roran rang nach Worten. »Ist es Teil deiner
Verwandlung in Ellesméra oder kommt es daher, dass du ein
Drachenreiter bist?«
»Letzteres.«
»Das erklärt, warum Galbatorix nicht längst
gestorben ist.«
»So ist es.«
Der Ast, den Roran ins Feuer geworfen hatte,
barst mit einem dumpfen Knacken, nachdem er von der Glut so erhitzt
worden war, dass ein letzter Rest Feuchtigkeit, der den
Sonnenstrahlen seit Jahrzehnten entgangen war, zu Dampf
explodierte.
»Die Vorstellung ist so... gewaltig, fast
undenkbar«, sagte Roran. »Der Tod ist ein Teil von uns. Er führt
uns. Formt uns. Treibt uns in den Wahnsinn. Bist du denn überhaupt
noch ein Mensch, wenn dich kein sterbliches Ende erwartet?«
»Ich bin nicht unbesiegbar«, gab Eragon zu
bedenken. »Ich kann durch ein Schwert oder einen Pfeil getötet
werden. Oder eine unheilbare Krankheit bekommen.«
»Aber wenn du diese Gefahren meidest, lebst
du ewig.«
»Falls mir das gelingt, dann ja. Saphira und
ich werden die Zeit überdauern.«
»Es scheint gleichzeitig ein Segen und ein
Fluch zu sein.«
»Ja. Ich kann nicht guten Gewissens eine
Frau heiraten, die älter wird und schließlich stirbt, während ich
von der Zeit unberührt bleibe. Eine solche Erfahrung wäre grausam
für uns beide. Darüber hinaus finde ich den Gedanken, mir über die
Jahrhunderte eine Frau nach der anderen zu nehmen, ziemlich
deprimierend.«
»Könntest du sie nicht mit Magie unsterblich
machen?«, fragte Roran.
»Man kann weißes Haar verdunkeln, man kann
Falten glätten und Erblindungen rückgängig machen. Wenn man gewillt
ist, bis zum Äußersten zu gehen, kann man sogar einem
Sechzigjährigen den Körper eines Jünglings geben. Doch die Elfen
haben nie einen Weg gefunden, den Geist einer Person zu verjüngen,
ohne ihre Erinnerungen auszulöschen. Und wer möchte schon alle paar
Jahrzehnte seine Identität verlieren, im Tausch gegen
Unsterblichkeit? Ein altes Hirn in einem jungen Körper ist auch
keine Lösung, denn so, wie der Mensch geschaffen ist, kann er
selbst bei bester Gesundheit nur ein Jahrhundert oder ein wenig
länger überdauern. Ebenso wenig kann man den Alterungsprozess
einfach anhalten. Das würde eine Fülle an schwerwiegenden Problemen
nach sich ziehen... Oh, die Elfen und Menschen haben tausendundeine
Methode ausprobiert, den Tod zu überlisten, aber keine davon hat
sich als erfolgreich erwiesen.«
»Mit anderen Worten«, sagte Roran, »für dich
ist es sicherer, Arya zu lieben, als dein Herz womöglich an eine
Menschenfrau zu verlieren.«
»Wen anderes als eine Elfe könnte ich
heiraten? Besonders wenn man bedenkt, wie ich jetzt aussehe?«
Eragon unterdrückte den Impuls, sich an die spitzen Ohren zu
fassen, was ihm allmählich zur Gewohnheit wurde. »Als ich in
Ellesméra gelebt habe, fiel es mir leicht, zu akzeptieren, wie die
Drachen mein Äußeres verändert haben. Immerhin haben sie mir noch
viele andere Geschenke gemacht. Außerdem waren die Elfen nach der
Blutschwur-Zeremonie viel freundlicher zu mir. Erst als ich zu den
Varden zurückkehrte, wurde mir bewusst, wie sehr ich mich verändert habe - und es quält
mich. Ich bin kein richtiger Mensch mehr und auch kein richtiger
Elf. Ich bin irgendetwas dazwischen, ein Mischling, ein
Halbblut.«
»Kopf hoch!«, sagte Roran fröhlich. »Du
brauchst dir vielleicht gar keine Sorgen darüber zu machen, dass du
ewig leben könntest. Galbatorix, Murtagh, die Ra’zac oder selbst
ein Soldat des Imperiums kann dir jederzeit den Garaus machen. Ein
weiser Mensch denkt nicht an die Zukunft, sondern lacht und trinkt,
solange er diese Welt noch genießen kann.«
»Ich weiß, was unser Vater dazu gesagt
hätte.«
»Und er hätte uns einen ordentlichen Tritt
in den Hintern verpasst.«
Sie lachten herzhaft. Dann stellte sich wie
so oft Schweigen zwischen ihnen ein. Diese Kluft war zu gleichen
Teilen auf Erschöpfung, ihre Vertrautheit und auch auf ein Gefühl
von Fremdheit zurückzuführen - angesichts ihrer so
unterschiedlichen Schicksale, wo ihr Leben doch einst in nahezu
identischen Bahnen verlaufen war.
Ihr solltet euch
schlafen legen, sagte Saphira zu Eragon und
Roran. Es ist spät. Wir müssen früh
aufstehen.
Eragon sah hinauf zum schwarzen
Himmelsgewölbe und bestimmte die Zeit danach, wie weit die Sterne
gewandert waren. Die Nacht war älter, als er erwartet hatte. »Ein
guter Rat«, sagte er. »Ich wünschte nur, wir hätten noch ein paar
Tage zum Ausruhen, bevor wir den Helgrind erstürmen. Die Schlacht
auf den Brennenden Steppen hat Saphira und mich unsere ganze Kraft
gekostet. Wir haben uns noch nicht wieder vollständig erholt, da
wir gleich hierher geflogen sind und ich die letzten zwei Abende
einen Teil meiner Kräfte in den Gürtel von Beloth dem Weisen
übertragen habe. Mir tun noch immer alle Knochen weh, und ich habe
mehr blaue Flecken, als ich zählen kann. Schau...« Er lockerte das
Manschettenband an seinem linken Hemdsärmel, schob das Lámarae -
einen weichen Elfenstoff aus über Kreuz gesponnenen Woll- und
Nesselfäden - nach oben und zeigte Roran einen dunkelgelben
Streifen, wo sein Schild gegen seinen Unterarm geprallt war.
»Ha!«, machte Roran. »Das kleine Ding nennst
du einen blauen Fleck? Da hab ich mir ja mehr wehgetan, als ich mir
heute Morgen den Zeh gestoßen habe. Hier, ich zeig dir eine
Verletzung, auf die ein Mann stolz sein kann.« Er zog den linken
Stiefel aus, rollte das Hosenbein hoch und deutete auf eine
daumendicke schwarze Strieme, die quer über den Wadenmuskel
verlief. »Da hat mich ein Speerschaft getroffen.«
»Beeindruckend, aber ich habe noch was
Besseres.« Eragon schlüpfte aus dem Wams, zog das Hemd aus der Hose
und drehte sich zur Seite, damit Roran die riesige Prellung an
seinen Rippen und eine ähnliche Verfärbung am Bauch sehen konnte.
»Pfeile«, erklärte er. Dann entblößte er den rechten Unterarm und
offenbarte eine Verletzung, die der am anderen Arm ähnelte. Diesen
Striemen hatte er abbekommen, als er mit der Armschiene ein Schwert
abwehrte.
Als Nächstes zeigte Roran ihm eine
Ansammlung blaugrüner Flecken, alle von der Größe einer Goldmünze,
die von der linken Achselhöhle bis hinab zum Steiß verlief. Es war
die Folge eines Sturzes auf einen Haufen Steine, zwischen denen
Teile einer Rüstung gelegen hatten.
Eragon betrachtete die Verletzung, dann
lachte er. »Pah, das sind ja winzige Stiche. Hast du dich verlaufen
und bist in einen Rosenbusch gefallen? Ich zeig dir was, worauf du
neidisch sein kannst.« Er zog die Stiefel aus, dann stand er auf
und ließ die Hose runter, sodass er nur das Hemd und eine
Wollunterhose trug. »Da kannst du nicht mithalten«, sagte er und
deutete auf die Innenseiten seiner Schenkel. Die Haut dort war bunt
gescheckt, als wäre Eragon eine exotische Frucht, die in
unterschiedlichen Farben von Holzapfelgrün bis Fäulnisbraun
reifte.
»Aua«, sagte Roran. »Wie ist denn das
passiert?«
»Ich bin beim Luftkampf gegen Murtagh und
Dorn von Saphira abgesprungen. Es gelang ihr, unter mir
wegzutauchen und mich aufzufangen, kurz bevor ich am Boden
aufgeschlagen wäre. Aber ich bin ein bisschen heftiger auf ihr
gelandet, als ich wollte.«
Roran zuckte zusammen und zugleich
schauderte er. »Geht es hoch bis zu deinem...« Er verstummte und
machte eine vage Geste.
»Leider ja.«
»Ich muss zugeben, das ist wirklich eine
bemerkenswerte Prellung. Darauf kannst du stolz sein. Es ist eine
ziemliche Leistung, sich auf diese Weise zu verletzen und dann auch
noch ausgerechnet an... dieser Stelle.«
»Es freut mich, dass du es zu schätzen
weißt.«
»Nun«, sagte Roran, »du hast vielleicht den
größten blauen Fleck, aber die Ra’zac haben mir eine Wunde
beigebracht, der du nichts entgegenzusetzen hast, seit die Drachen
dir, soweit ich weiß, deine Rückennarbe entfernt haben.« Während er
sprach, zog er das Hemd aus und ging näher zum pulsierenden Licht
der Glut.
Eragon riss erschrocken die Augen auf, bevor
er sich dabei ertappte und eine gleichmütigere Miene aufsetzte. Er
schalt sich für seine Überreaktion und dachte: So schlimm kann es nicht sein. Aber je länger
er Roran betrachtete, desto bestürzter wurde er.
Eine lange, runzelige, rot glänzende Narbe
wand sich um Rorans rechte Schulter. Sie begann am Schlüsselbein
und zog sich genau bis zur Mitte des Arms. Man konnte erkennen,
dass der Ra’zac einen Teil des Muskels durchtrennt hatte und die
beiden Enden danach nicht mehr richtig zusammengewachsen waren. Ein
hässlicher Knubbel entstellte die Haut unterhalb der Narbe, wo die
Muskelfasern sich zusammengezogen hatten. Weiter oben war das
Fleisch nach innen gesunken, sodass eine etwa fingerdicke
Vertiefung entstanden war.
»Roran! Das hättest du mir längst zeigen
sollen. Ich hatte keine Ahnung, dass der Ra’zac dich so schwer
verletzt hat... Bereitet es dir Probleme, den Arm zu
bewegen?«
»Zur Seite und nach hinten nicht«, sagte
Roran. Er demonstrierte es ihm. »Aber nach vorne kann ich die Hand
nur so hoch heben... bis auf Brusthöhe.« Er verzog das Gesicht und
nahm den Arm wieder runter. »Selbst das ist mühselig. Ich muss den
Daumen waagrecht halten, sonst wird der Arm taub. Am besten geht
es, wenn ich ihn von hinten herumschwinge und auf dem Gegenstand
landen lasse, den ich greifen will. Ich hab mir ein paarmal die
Knöchel aufgeschlagen, bevor ich den Trick draufhatte.«
Eragon rollte den Stab zwischen seinen
Händen. Soll ich?, fragte er
Saphira.
Ich glaube, du
musst.
Morgen könnten wir es
bedauern.
Noch viel mehr würden
wir es bedauern, wenn Roran stirbt, weil er seinen Hammer nicht
richtig schwingen konnte. Wenn du die Energie den Lebewesen in
unserer Umgebung entziehst, schonst du deine eigenen
Kräfte.
Du weißt, wie ungern
ich das tue. Schon darüber zu reden, macht mich krank.
Unser Leben ist
wichtiger als das einer Ameise, konterte Saphira.
Das sieht die Ameise
aber anders.
Du bist keine Ameise.
Sei nicht so unbedacht, Eragon. Das passt nicht zu dir.
Seufzend legte Eragon den Stab nieder und
winkte Roran heran. »Komm her, ich werde es dir heilen.«
»Dazu bist du fähig?«
»Sicher.«
Freude erhellte Rorans Züge, dann zögerte er
jedoch und schien beunruhigt. »Jetzt? Ist das denn klug?«
»Wie Saphira sagt, es ist besser, die
Verletzung zu heilen, solange noch Gelegenheit dazu ist, als zu
riskieren, dass sie dich das Leben kostet oder uns in Gefahr
bringt.«
Roran trat neben ihn und Eragon legte ihm
die rechte Hand auf die Narbe. Gleichzeitig öffnete er seinen
Geist, um die Bäume, Pflanzen und Tiere in der Schlucht mit
einzuschließen; alle außer den schwächsten, die der Kraftentzug
umbringen würde.
Dann begann er, in der alten Sprache zu
singen. Die Beschwörung, die er rezitierte, war lang und
kompliziert. Eine solche Verletzung zu heilen, ging weit darüber
hinaus, neue Haut wachsen zu lassen, und war eine schwierige
Angelegenheit. Dabei verließ Eragon sich auf die Heilformeln, die
er in Ellesméra studiert und wochenlang auswendig gelernt
hatte.
Das Silbermal auf Eragons Handfläche, die
Gedwëy Ignasia, erglühte weiß, als er die Magie heraufbeschwor. Im
nächsten Moment stöhnte er wehklagend auf, als auf dem
Wacholderbaum hinter ihnen zwei kleine Vögel und eine zwischen den
Steinen verborgene Schlange verendeten. Neben ihm warf Roran den
Kopf zurück und fletschte die Zähne, während der Schultermuskel
unter der straffen Haut erbebte und hin und her sprang wie ein
lebendiges Wesen.
Dann war es vorbei.
Eragon nahm einen tiefen Atemzug, legte den
Kopf in die Hände und wischte sich schnell die Tränen ab. Dann
betrachtete er sein Werk. Er sah, wie Roran mehrmals kräftig mit
den Schultern zuckte, wie er sich streckte und mit den Armen
kreiste. Seine Schulterpartie war massiv und gestählt, das Resultat
jahrelanger schwerer Feldarbeit. Überrascht verspürte Eragon einen
Anflug von Neid. Er mochte stärker sein, aber er war nie so
muskulös gewesen wie sein Cousin.
Roran grinste. »So gut wie neu. Vielleicht
sogar besser als vorher. Ich danke dir.«
»Keine Ursache.«
»Es war ganz seltsam. Ich hab mich gefühlt,
als würde ich aus mir herauskriechen. Und gejuckt hat es
vielleicht. Ich hätte mir fast die Haut vom Leib gerissen -«
»Bring mir doch bitte ein Stück Brot aus der
Satteltasche, ja? Ich bin hungrig.«
»Wir haben doch gerade erst gegessen.«
»Ich brauche einen Bissen, nachdem ich so
einen Zauber gewirkt habe.« Eragon schniefte, dann zog er sein
Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. Er schniefte erneut.
Er hatte nicht ganz die Wahrheit gesagt. Es war der von ihm
herbeigeführte Tod der drei Tiere, der ihm zu schaffen machte,
nicht der Zauber selbst; und er fürchtete, sich zu erbrechen, wenn
er nicht sofort etwas in den Magen bekam.
»Du wirst doch nicht krank, oder?«, fragte
Roran.
»Nein.« Noch immer erfüllt von
Schuldgefühlen, griff Eragon nach der Tonflasche mit dem Met. Er
hoffte, die düsteren Gedanken mit einem kräftigen Schluck
hinunterspülen zu können.
Etwas sehr Großes, Schweres und Scharfes
traf seine Hand und drückte sie zu Boden. Er zuckte zusammen und
blickte auf eine von Saphiras elfenbeinfarbenen Klauen, die sich in
sein Fleisch grub. Das dicke Lid der Drachendame glitt einmal über
die große schimmernde Iris, mit der sie ihn fixierte. Nach einem
langen Moment hob sie die Klaue, so wie ein Mensch einen Finger
heben würde, und Eragon zog die Hand zurück. Er schluckte und griff
wieder nach dem Rotdornstab. Er versuchte, den Gedanken an Met zu
verdrängen und sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren, statt
sich in seinem Selbsthass zu suhlen.
Roran holte einen halben Laib Sauerteigbrot
aus der Tasche, dann hielt er inne und fragte mit dem Anflug eines
Lächelns: »Möchtest du nicht lieber etwas Hirschfleisch? Ich hab es
nicht ganz aufgegessen.« Er hielt ihm den behelfsmäßigen Bratspieß
aus Wacholderbaumholz hin, an dem noch drei dicke goldbraune
Fleischbrocken hingen. Für Eragons sensible Nase war der Duft, der
ihm entgegenwallte, schwer und intensiv. Er erinnerte ihn an die
Nächte, die er im Buckel verbracht hatte, und an Mahlzeiten an
langen Winterabenden, als er, Roran und Garrow sich um den Ofen
versammelt und die Gesellschaft der anderen genossen hatten,
während draußen ein Sturm tobte. Ihm lief das Wasser im Mund
zusammen. »Es ist noch warm«, sagte Roran und wedelte mit dem Spieß
vor Eragons Nase herum.
Eragon nahm seine ganze Willenskraft
zusammen und schüttelte den Kopf. »Gib mir einfach das Brot.«
»Bist du sicher? Das Fleisch ist herrlich,
ganz zart und würzig. Es ist so saftig, dass man beim Hineinbeißen
glaubt, man hätte einen Löffel von Elains bestem Eintopf im
Mund.«
»Trotzdem, ich kann nicht.«
»Du weißt, dass es dir schmecken
würde.«
»Roran, hör auf, mich zu reizen, und gib mir
das Brot!«
»Ah, jetzt siehst du schon viel besser aus.
Vielleicht brauchst du ja gar kein Brot, sondern nur jemanden, der
deine Laune etwas hebt, was?«
Eragon funkelte ihn an. Dann, schneller als
man schauen konnte, riss er Roran das Brot aus der Hand.
Das schien Roran sogar noch mehr zu
amüsieren. Während Eragon sich einen Bissen vom Laib abbrach, sagte
sein Cousin: »Ich weiß gar nicht, wie du allein von Früchten, Brot
und Gemüse leben kannst. Ein Mann muss doch Fleisch essen, wenn er
sich seine Kraft erhalten will. Vermisst du es denn überhaupt
nicht?«
»Mehr, als du dir vorstellen kannst.« »Aber
warum quälst du dich dann so? Jedes Geschöpf auf der Welt muss
andere Lebewesen essen, um zu überleben - selbst Pflanzen tun es.
So sind wir nun mal beschaffen. Warum versuchst du, dich der
natürlichen Ordnung der Dinge zu widersetzen?«
Ich habe ihm in
Ellesméra das Gleiche gesagt, bemerkte
Saphira, aber er hört ja nicht auf
mich.
Eragon zuckte mit den Achseln. »Diese
Diskussion hatten wir doch schon. Tut, was ihr wollt. Ich schreibe
niemandem vor, wie er leben soll. Ich für meinen Teil kann aber
nicht guten Gewissens ein Tier essen, dessen Gedanken und Gefühle
ich geteilt habe.«
Saphiras Schwanzspitze zuckte und ihre
Schuppen stießen geräuschvoll gegen einen verwitterten Felsblock,
der aus dem Boden ragte. Oh, es ist
hoffnungslos mit ihm. Sie reckte den Hals und schnappte
Roran das Hirschfleisch samt Spieß aus der Hand. Das Holz knackte
zwischen ihren gezackten Zähnen, als sie zubiss, dann verschwand es
zusammen mit den Fleischbrocken in den feurigen Tiefen ihres
Magens. Mmh. Du hast nicht
übertrieben,sagte sie zu Roran. Was
für ein saftiger Leckerbissen: so zart, so salzig. So überaus
köstlich, dass ich vor Freude tanzen könnte. Du solltest öfter für
mich kochen, Roran Hammerfaust. Aber beim nächsten Mal bereitest du
am besten gleich mehrere Hirsche zu, damit ich auch satt
werde.
Roran zögerte, als fürchte er, es könne ihr
ernst sein mit ihrer Bitte, und überlege nun fieberhaft, wie er
sich möglichst elegant vor dieser unerwünschten und leidigen
Verpflichtung drücken könnte. Er sah Eragon flehend an, der
lauthals lachte, sowohl über Rorans Miene als auch über dessen
missliche Lage.
Saphiras volltönendes Lachen mischte sich
unter Eragons und schallte durch die Schlucht. Ihre Zähne glänzten
krapprot im Schein der Glut.
Eine Stunde, nachdem sich die drei zur Ruhe
begeben hatten, lag Eragon auf dem Rücken neben Saphira, wegen der
nächtlichen Kälte in mehrere Decken gehüllt. Alles war ruhig,
nichts regte sich. Es schien, als hätte ein Magier die Welt mit
einem Zauber belegt, sodass nun alle Lebewesen in einen ewigen
Schlaf gesunken waren, um für alle Zeiten erstarrt und
unveränderlich unter dem wachsamen Blick der funkelnden Sterne
dazuliegen.
Ohne sich zu rühren, flüsterte Eragon im
Geiste: Saphira?
Ja, Kleiner?
Was, wenn ich recht
habe und er im Helgrind ist? Ich weiß nicht, was ich dann tun
soll... Sag du es mir.
Das kann ich nicht,
Kleiner. Diese Entscheidung musst du selbst treffen. Das Denken der
Menschen ist anders als das der Drachen. Ich würde ihm den Kopf
abreißen und mich an seinem Körper gütlich tun. Aber das erscheint
dir sicher falsch.
Wirst du zu mir halten,
egal wie ich mich entscheide?
Immer, Kleiner. Schlaf
jetzt. Alles wird gut.
Beruhigt blickte Eragon in die Schwärze
zwischen den Sternen, verlangsamte seine Atmung und glitt in eine
Trance, die für ihn den Schlaf ersetzte. Er blieb sich seiner
Umgebung bewusst, doch vor dem Hintergrund der weißen Sternbilder
traten nun die Gestalten seiner Wachträume hervor und führten ihr
verwirrendes schattenhaftes Stück auf, so wie sie es immer zu tun
pflegten.