AM LAGERFEUER

Das heruntergebrannte Feuer pulsierte wie das Herz eines riesigen Tieres. Gelegentlich lösten sich goldene Funken, die über das Holz hinwegrasten, bevor sie in einem weiß glühenden Spalt verschwanden.
Die glimmenden Reste des Feuers, das Eragon und Roran geschürt hatten, warfen einen schwachen rötlichen Schein auf die Umgebung. Er ließ einen Streifen steiniger Erde erkennen, einige pulvergraue Sträucher, die schattigen Umrisse eines etwas abseitsstehenden Wacholderbaums und dann nichts mehr.
Eragon hatte seine nackten Füße dem rubinroten Glutnest entgegengestreckt und genoss die Wärme. Mit dem Rücken lehnte er an den knorrigen Schuppen von Saphiras breitem rechten Vorderbein. Roran saß ihm gegenüber auf der eisenharten, sonnengebleichten, vom Wind abgewetzten Rinde eines uralten Baumstumpfs. Wenn Roran sich bewegte, gab der Stumpf jedes Mal ein klagendes Ächzen von sich, bei dem Eragon sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Im Augenblick jedoch herrschte Stille. Selbst das Holz schwelte lautlos. Roran hatte nur längst abgestorbene, völlig trockene Äste gesammelt, damit das Feuer nicht rauchte, was feindliche Späher vielleicht bemerkt hätten.
Eragon war gerade damit fertig, Saphira die Ereignisse des Tages zu schildern. Normalerweise brauchte er ihr nicht zu erzählen, was er erlebt hatte, da alle Gedanken, Empfindungen und Sinneseindrücke zwischen ihnen hin und her flossen wie Wasser von einem Seeufer zum anderen. Dieses Mal war es nötig, denn Eragon hatte seinen Geist auf ihrer Erkundungstour sorgfältig abgeschirmt. Nur bei seinem Vorstoß in den Unterschlupf der Ra’zac war er ungeschützt gewesen.
Nach einer längeren Gesprächspause gähnte Saphira und entblößte ihre furchterregenden Reißzähne. Sie mögen grausam und bösartig sein, aber mich beeindruckt, dass die Ra’zac ihre Opfer derart behexen können, dass sie gefressen werden wollen. So gesehen sind sie große Jäger... Vielleicht sollte ich das irgendwann auch mal versuchen.
Aber nicht mit Menschen, sah Eragon sich genötigt hinzuzufügen. Versuch es stattdessen mit einem Schaf.
Menschen, Schafe: Welchen Unterschied macht das schon für einen Drachen? Dann stieß sie tief aus ihrer Kehle ein polterndes Lachen aus, das Eragon an Donner erinnerte.
Er beugte sich vor, um sein Gewicht von Saphiras scharfkantigen Schuppen zu nehmen, und griff nach dem Rotdornstab, der neben ihm auf dem Boden lag. Er rollte ihn zwischen den Handflächen und bewunderte das Spiel des Lichts auf dem polierten Wurzelknauf und der am Stabende aufgesetzten, stark zerkratzten Eisenspitze.
Roran hatte ihm den Stab in die Hand gedrückt, bevor sie die Varden auf den Brennenden Steppen verlassen hatten, und gesagt: »Hier! Den hat Fisk mir gemacht, nachdem der Ra’zac mir in die Schulter gebissen hatte. Ich weiß, du hast dein Schwert verloren, und ich dachte, du könntest ihn brauchen... Falls du dir ein neues Schwert zulegen willst, ist das auch in Ordnung. Aber ich habe festgestellt, dass es kaum einen Kampf gibt, den man nicht mit einem guten Stock gewinnen kann.« Da auch Brom immer einen Stab getragen hatte, beschloss Eragon, den Rotdornstab einem neuen Schwert vorzuziehen. Er spürte ohnehin kein Bedürfnis, sich mit einer Klinge zu begnügen, die weniger machtvoll war als Zar’roc. In dieser Nacht hatte er den Stab und den Stiel von Rorans Hammer mit verschiedenen Schutzzaubern belegt, damit beide nicht mehr brechen konnten, außer unter extremster Belastung.
Eragon wurde von einer Reihe ungebetener Erinnerungen überwältigt: Ein düsterer orangeroter Himmel rauschte an ihm vorbei, als Saphira bei der Verfolgung des roten Drachen und seines Reiters in die Tiefe hinabstieß. Der Wind heulte ihm in den Ohren... Seine Finger wurden taub durch die Wucht, mit der die Schwerter aufeinanderprallten, als er am Boden gegen jenen Drachenreiter kämpfte... Mitten im Duell riss er seinem Gegner den Helm vom Kopf und erkannte, dass er seinem tot geglaubten einstigen Freund und Reisegefährten Murtagh gegenüberstand... Murtaghs höhnischer Blick, als er Zar’roc an sich nahm und erklärte, als Eragons älterer Bruder der rechtmäßige Erbe der roten Klinge zu sein...
Eragon blinzelte verwirrt, als das Schlachtengetöse verklang und der Geruch des Blutes dem angenehmen Duft des Wacholderholzes wich. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, um den bitteren Geschmack nach Galle loszuwerden.
Murtagh.
Allein der Name weckte in Eragon eine Unzahl widerstreitender Gefühle. Einerseits mochte er ihn. Murtagh hatte ihn und Saphira nach ihrem ersten unseligen Besuch in Dras-Leona vor den Ra’zac gerettet. Murtagh hatte sein Leben riskiert, um ihn - Eragon - aus Gil’ead herauszuholen. Er hatte sich bei der Schlacht um Farthen Dûr mehr als ehrenhaft geschlagen. Und trotz der schweren Strafe, die ihn dafür ohne Zweifel erwartete, hatte er Galbatorix’ Befehle in einer Weise interpretiert, die es ihm erlaubte, Eragon und Saphira nach der Schlacht auf den Brennenden Steppen ziehen zu lassen. Es war nicht Murtaghs Schuld, dass die Zwillinge ihn entführt hatten, dass der rote Drache Dorn für ihn geschlüpft war oder Galbatorix ihre wahren Namen herausgefunden und Murtagh und Dorn damit einen Treueschwur in der alten Sprache abgerungen hatte.
An nichts von alledem traf Murtagh eine Schuld. Er war ein Opfer des Schicksals, war es seit dem Tag seiner Geburt gewesen.
Und dennoch... Murtagh mochte Galbatorix gegen seinen Willen dienen, und er mochte die Gräueltaten verabscheuen, die zu begehen der König ihn zwang. Aber ein Teil von ihm schien an der neuen Macht Gefallen zu finden. Bei der Schlacht auf den Brennenden Steppen zwischen den Varden und dem Imperium hatte Murtagh sich den Zwergenkönig Hrothgar herausgegriffen und ihn aus der Ferne mittels Magie umgebracht, ohne dass Galbatorix ihm den Befehl dazu erteilt hätte. Er hatte Eragon und Saphira gehen lassen, aber erst nachdem er sie in einem brutalen Kräftemessen besiegt und Eragon ihn anschließend angefleht hatte, ihnen die Freiheit zu schenken.
Und Murtagh hatte sich sichtlich an Eragons Qualen ergötzt, als er ihm offenbarte, dass sie beide Söhne Morzans waren - des ersten und letzten der dreizehn Drachenreiter, der Abtrünnigen, die ihre Gefährten an Galbatorix verraten hatten.
Heute, vier Tage nach der Schlacht, fiel Eragon eine weitere mögliche Erklärung für Murtaghs Verhalten ein: Vielleicht war es für ihn eine Erleichterung, endlich einem anderen Menschen dabei zuzuschauen, wie er die gleiche schreckliche Last schultern musste, die Murtagh bereits sein ganzes Leben lang trug.
Ganz gleich, ob das nun stimmte oder nicht, Eragon vermutete, dass Murtagh seine neue Rolle aus demselben Grund annahm, aus dem ein Hund, der grundlos geprügelt wird, sich eines Tages gegen seinen Herrn wendet und ihn anfällt. Murtagh hatte wieder und wieder Prügel einstecken müssen, und nun hatte er die Gelegenheit, es einer Welt heimzuzahlen, die ihm nicht die geringste Güte entgegengebracht hatte.
Doch egal, was noch an Gutem in Murtaghs Herzen verborgen sein mochte, er und Eragon waren dazu verdammt, Todfeinde zu sein, denn Murtaghs in der alten Sprache geleisteter Treueschwur kettete ihn mit unzerstörbaren Banden an Galbatorix - in alle Ewigkeit.
Hätte er nur nicht Ajihad bei der Jagd nach den Urgals unter Farthen Dûr begleitet. Oder wenn ich nur ein bisschen schneller gewesen wäre, hätten die Zwillinge...
Eragon, sagte Saphira.
Er riss sich zusammen und nickte, dankbar für Saphiras Ermahnung. Eragon bemühte sich nach Kräften, nicht ständig über Murtagh oder ihre gemeinsamen Eltern zu grübeln, aber die Gedanken überfielen ihn oft gerade dann, wenn er am wenigsten damit rechnete.
Eragon nahm einen tiefen Atemzug und ließ die Luft langsam ausströmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann versuchte er, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht.
Am Morgen nach der gewaltigen Schlacht auf den Brennenden Steppen - als die Varden sich neu formierten, um die Truppen des Imperiums zu verfolgen, die sich den Jiet-Strom entlang auf dem Rückzug befanden - hatte Eragon Nasuada und Arya aufgesucht, ihnen Rorans Situation geschildert und um Erlaubnis gebeten, seinem Cousin zu helfen. Er bekam sie nicht. Beide Frauen sprachen sich vehement dagegen aus, und Nasuada bezeichnete den Plan gar als »undurchdachte Torheit, die im Falle eines Scheiterns für alle in Alagaësia katastrophale Folgen haben würde!«
Die Diskussion zog sich so lange hin, dass Saphira sie schließlich mit einem Aufbrüllen beendete, das die Wände im Zelt der Varden-Anführerin erbeben ließ. Dann sagte die Drachendame: Ich bin verwundet und müde. Und Eragon hat die Sache viel zu umständlich erklärt. Wir haben Besseres zu tun, als wie Dohlen herumzukreischen, findet ihr nicht?... Gut, dann hört jetzt mir zu.
Es war schwierig, einem Drachen zu widersprechen.
Im Detail waren Saphiras Ausführungen komplex, aber die zugrunde liegende Struktur ihres Vortrags war leicht nachzuvollziehen. Saphira unterstützte Eragon, weil sie begriff, wie viel ihm die geplante Mission bedeutete. Eragon wiederum unterstützte Roran, weil er wusste, dass der auch ohne ihn Katrinas Fährte folgen würde und dass sein Cousin auf sich allein gestellt nicht gegen die Ra’zac bestehen konnte. Und solange das Imperium Katrina gefangen hielt, wäre Roran - und dadurch auch Eragon - anfällig für Galbatorix’ Erpressungsversuche. Falls der Tyrann drohte, Katrina zu töten, würde Roran nichts anderes übrig bleiben, als dessen Forderungen zu erfüllen.
Deshalb wäre es doch am klügsten, diese Schwachstelle in ihrer Verteidigungslinie zu beseitigen, bevor ihre Feinde sich diesen Vorteil zunutze machten.
Und der Zeitpunkt für die Rettungsaktion sei denkbar günstig, erklärte Saphira. Weder Galbatorix noch die Ra’zac würden mit einem Überfall im Herzen des Imperiums rechnen, während die Varden nahe der Grenze zu Surda gegen Galbatorix’ Truppen kämpften. Man hatte Murtagh und Dorn in Richtung Urû’baen davonfliegen sehen, wo sie sich zweifellos ihrer Bestrafung stellen mussten. Nasuada und Arya waren mit Eragon einer Meinung, dass Murtagh und sein Drache danach vermutlich nach Norden weiterziehen würden, um dort Königin Islanzadi und die von ihr befehligte Elfen-Streitmacht zu bekämpfen, sobald diese ihre Gegenwart offenbarte und zuschlug. Außerdem wäre es klug, die Ra’zac möglichst schnell zu eliminieren, bevor sie anfingen, die Krieger der Varden zu terrorisieren und zu demoralisieren.
Dann wies Saphira höchst diplomatisch darauf hin, dass, falls Nasuada ihre Autorität als Eragons Lehnsherrin in die Waagschale werfen und ihm den Einsatz verbieten würde, es ihre Beziehung mit Groll und Unmut vergiften könnte, was womöglich der Sache der Varden schaden würde. Aber,sagte Saphira, es ist deine Entscheidung, Nasuada. Wenn du möchtest, dann behalte Eragon hier. Doch seine Verpflichtungen sind nicht die meinen. Ich für meinen Teil habe beschlossen, Roran zu begleiten. Es scheint mir ein spannendes Abenteuer.
Ein Lächeln erschien auf Eragons Lippen, als er sich an die Szene erinnerte.
Das Gewicht von Saphiras Worten zusammen mit ihrer unwiderlegbaren Logik hatte Nasuada und Arya schließlich überzeugt, ihr Einverständnis zu geben, wenn auch widerwillig.
Hinterher hatte Nasuada erklärt: »Wir vertrauen in dieser Sache eurem Urteil, Eragon, Saphira. Zu unser beiderseitigem Wohl hoffe ich, dass die Mission gelingt.« Ihr Tonfall ließ Eragon im Unklaren darüber, ob ihre Worte ein von Herzen kommender Wunsch oder eine versteckte Drohung waren.
Den Rest des Tages hatte Eragon damit verbracht, Vorräte zu besorgen, gemeinsam mit Saphira Landkarten des Imperiums zu studieren und einige von ihm als nötig erachtete Schutzzauber zu wirken, beispielsweise um zu verhindern, dass Galbatorix und seine Lakaien Roran mit der Traumsicht orteten.
Am nächsten Morgen waren Eragon und Roran auf Saphiras Rücken geklettert, dann war sie in die Luft geschnellt und über die orangefarbenen Wolken gestiegen, die die Brennenden Steppen verdunkelten. Sie flog ohne Unterbrechung, bis die Sonne das Himmelsgewölbe überquert hatte und hinter dem Horizont versank, um von dort aus ein prachtvolles rotgelbes Feuerlicht über die Landschaft zu werfen.
Der erste Abschnitt ihrer Reise führte sie an die Grenze des Imperiums, wo kaum Menschen lebten. Dann wandten sie sich nach Norden in Richtung Dras-Leona und Helgrind. Ab da waren sie nur noch nachts unterwegs, um nicht von den Bewohnern der vielen kleinen Dörfer bemerkt zu werden, die sich über das Grasland verteilten, das zwischen ihnen und ihrem Ziel lag.
Eragon und Roran mussten sich in dicke Umhänge und Pelze hüllen und trugen Wollhandschuhe und Filzmützen, denn Saphira flog höher, als die meisten eisbedeckten Berggipfel reichten, wo die Luft dünn und trocken war und ihnen in den Lungen brannte. Sollte ein Bauer, der auf dem Feld ein krankes Kalb pflegte, oder ein scharfäugiger Wachmann auf seiner Runde zufällig zum Himmel aufschauen, würden sie nicht größer als ein Adler erscheinen.
Wohin sie auch kamen, überall erblickte Eragon Spuren des Krieges, der nun in vollem Gange war: Soldatenlager, mit Vorräten beladene Wagen, für die Nacht zu einem Kreis zusammengestellt, und Scharen von Männern, die in eisernen Halsschellen aus ihren Dörfern geführt wurden, um für Galbatorix zu kämpfen. Die Menge an Ausrüstung und Kriegern, die man gegen die Rebellen aufbot, war beängstigend.
Kurz vor Ende der zweiten Nacht waren in der Ferne die gesplitterten Granittürme des Helgrind aufgetaucht: dunkel und Unheil verkündend im aschfarbenen Licht des nahen Morgens. Saphira war in jener Schlucht gelandet, in der sie jetzt am Feuer saßen. Sie hatten sich ausgeruht und fast den ganzen Tag über geschlafen, bis sie ihre Erkundungen aufnahmen.
Eine wirbelnde Fontäne bernsteinfarbener Funken stob auf, als Roran einen Ast auf das heruntergebrannte Holz warf. Er fing Eragons Blick auf und zuckte mit den Schultern. »Mir ist kalt.«
Bevor Eragon etwas entgegnen konnte, vernahm er ein schabendes Geräusch, als würde jemand ein Schwert zücken.
Ohne zu überlegen, hechtete er in die entgegengesetzte Richtung, rollte sich ab und kam in geduckter Haltung auf die Füße, den Rotdornstab hochgerissen, um ein herabsausendes Schwert abzuwehren. Roran war fast genauso schnell. Er packte seinen Schild, sprang auf und zog den Hammer aus dem Gürtel; alles in einer einzigen fließenden Bewegung.
Reglos warteten sie auf den Angriff.
Eragons Herz pochte und seine Muskeln bebten, während er die Dunkelheit nach dem leisesten Anzeichen einer Bewegung absuchte.
Ich rieche nichts, sagte Saphira.
Als mehrere Minuten verstrichen, ohne dass etwas geschah, schickte Eragon seinen Geist in die umliegende Landschaft aus. »Da ist niemand«, sagte er. Er beschwor seine Magie herauf: »Brisingr raudhr!« Einige Schritte vor ihm tauchte ein schwaches rotes Werlicht auf. Es schwebte auf Augenhöhe in der Luft und erfüllte die Schlucht mit einem wässrigen Leuchten. Er drehte sich, und die Lichtkugel folgte ihm, als wäre sie durch einen unsichtbaren Stab mit Eragon verbunden.
Zusammen schlichen er und Roran auf die Stelle zu, von der das Geräusch gekommen war, folgten dem ostwärtigen Lauf der Schlucht. Sie hielten ihre Waffen erhoben und blieben nach jedem Schritt kampfbereit stehen. Etwa zehn Schritte weg vom Lager hob Roran die Hand und bedeutete Eragon, stehen zu bleiben. Er zeigte auf eine Schieferplatte etwas abseits im Gras. Sie wirkte seltsam fehl am Platz.
Roran ging hinüber, rieb mit einem kleineren Schieferstück über die Platte und erzeugte das gleiche Geräusch, das sie aufgeschreckt hatte.
»Sie muss heruntergestürzt sein«, sagte Eragon und betrachtete die Ränder der Schlucht. Das Werlicht ließ er verlöschen.
Roran nickte und klopfte sich den Staub von der Hose.
Während er zu Saphira zurückging, überlegte Eragon, wie überhastet sie reagiert hatten. Noch immer zog sein Herz sich bei jedem Schlag zu einem harten Klumpen zusammen, seine Hände zitterten und am liebsten wäre er in die Wildnis gestürmt und mehrere Meilen gerannt, ohne stehen zu bleiben. Früher wären wir nicht so zusammengeschreckt, dachte er. Der Grund für ihre Nervosität lag auf der Hand: Jeder ihrer zahlreichen Kämpfe hatte ihnen einen Teil ihrer Gelassenheit geraubt. Zurückgeblieben waren nichts als blanke Nerven, die schon auf den kleinsten Reiz reagierten.
Roran musste sich ähnliche Gedanken gemacht haben, denn er fragte: »Siehst du sie?«
»Wen?«
»Die Männer, die du getötet hast. Träumst du von ihnen?«
»Manchmal.«
Das pulsierende Glühen des Holzes beleuchtete Rorans Gesicht von unten, sodass über dem Mund und auf der Stirn tiefe Schatten lagen, die seinen halb geschlossenen Augen einen niedergeschlagenen Ausdruck verliehen. Er sprach langsam, als ob es ihm schwerfiele, darüber zu reden. »Ich wollte nie ein Krieger sein. Als Kind habe ich von ruhmreichen Kämpfen geträumt, so wie jeder Junge es tut, aber wichtig war mir immer die Arbeit auf dem Feld. Das und unsere Familie... Und jetzt habe ich getötet... Ich habe getötet und getötet und du hast sogar noch mehr Menschen umgebracht.« Sein Blick richtete sich auf einen fernen Punkt, den nur er sehen konnte. »Da waren diese beiden Männer in Narda... Hab ich dir von ihnen erzählt?«
Eragon kannte die Geschichte bereits, doch er schüttelte den Kopf und schwieg.
»Die Wachen am Haupttor... Sie waren zu zweit und der rechte Mann hatte schlohweißes Haar. Ich weiß es noch, weil er nicht älter als vierundzwanzig oder fünfundzwanzig gewesen sein konnte. Sie trugen Galbatorix’ Wappen, klangen aber, als ob sie aus Narda stammen würden. Es waren keine Berufssoldaten. Sie waren bloß einfache Männer, die beschlossen hatten, ihre Heimat vor Urgals, Piraten und Banditen zu schützen... Wir wollten ihnen nichts tun. Ich schwöre dir, Eragon, das war nie Teil unseres Plans. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Sie haben mich erkannt. Bei dem Weißhaarigen habe ich unterm Kinn zugestochen... Es war so, wie wenn Vater einem Schwein die Kehle aufschnitt. Dem anderen habe ich den Schädel eingeschlagen. Ich spüre heute noch, wie der Knochen brach... Ich kann mich an jeden einzelnen Mann erinnern, den ich getötet habe, von Carvahall bis zu den Brennenden Steppen... Weißt du, manchmal kann ich nicht einschlafen, denn wenn ich die Augen zumache, erstrahlt in meinem Kopf das Feuer, das wir im Hafen von Teirm gelegt haben. In solchen Momenten glaube ich, verrückt zu werden.«
Eragon bemerkte plötzlich, dass er den Stab so fest umklammert hielt, dass seine Knöchel ganz weiß waren und die Sehnen an den Handgelenken hervortraten. »Ich weiß, was du meinst«, sagte er. »Zuerst waren es nur Urgals. Dann waren es Menschen und Urgals und nun bei dieser letzten Schlacht... Ich weiß, wir tun das Richtige, aber richtig bedeutet nicht, dass es einfach ist. Aufgrund unserer besonderen Stellung erwarten die Varden von Saphira und mir, in der ersten Reihe ihrer Streitmacht zu marschieren und ganze Bataillone auszulöschen. Das tun wir. Wir haben es getan.« Er stockte und verstummte.
Gewalt begleitet alle großen Umwälzungen, jeden großen Wandel, sagte Saphira zu ihnen beiden. Wir haben mehr als genug davon miterlebt, denn wir selbst sind die Boten dieses Wandels. Ich bin ein Drache und bereue nicht den Tod derer, die uns in Gefahr bringen. Die beiden Wachen in Narda getötet zu haben, mag dir zwar nicht zum Ruhm gereichen, du hast mit dieser Tat aber auch keine Schuld auf dich geladen. Du musstest es tun. Wenn du kämpfst, Roran, verleiht dann die grimmige Freude auf eine Schlacht deinen Beinen keine Flügel? Hast du nie die Kampfeslust verspürt, wenn du einem würdigen Gegner gegenübertrittst, und die Genugtuung, wenn sich die Leichname deiner Feinde vor dir auftürmen? Eragon, du hast es schon oft erlebt. Hilf mir, es deinem Cousin zu erklären.
Eragon starrte auf das glühende Holz. Saphira hatte eine Wahrheit ausgesprochen, die er nicht anerkennen wollte. Schon gar nicht, indem er ihr beipflichtete, dass man Gefallen am Ausüben von Gewalt finden konnte. Das würde aus ihm einen Menschen machen, für den er nur Verachtung übrighätte. Deshalb schwieg er. Roran schien genauso zu empfinden.
Mit weicherer Stimme sagte Saphira: Sei nicht wütend. Es war nicht meine Absicht, dich zu verärgern... Ich vergesse manchmal, dass diese Empfindungen noch immer ziemlich neu für dich sind, während ich seit dem Tag, an dem ich geschlüpft bin, mit Zähnen und Klauen ums Überleben kämpfe.
Eragon erhob sich, ging zu den Satteltaschen hinüber und holte eine kleine Tonflasche heraus, die Orik ihm vor ihrer Abreise gegeben hatte. Dann ließ er zwei große Schlucke Himbeermet in seine Kehle laufen. Wärme breitete sich in seinem Bauch aus. Eragon verzog das Gesicht und reichte die Flasche Roran, der ebenfalls von dem Gebräu trank.
Mehrere Schlucke Met später war Eragons düstere Stimmung verflogen und er sagte: »Wir könnten morgen ein Problem bekommen.«
»Was für ein Problem?«
Eragon richtete seine Worte auch an Saphira. »Weißt du noch, wie ich meinte, wir - Saphira und ich - würden mit den Ra’zac mühelos fertig werden?«
»Ja.«
Werden wir auch, sagte Saphira.
»Nun, ich habe darüber nachgedacht, während wir den Helgrind ausgekundschaftet haben, und jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Es gibt fast endlos viele Möglichkeiten, Dinge mit Magie zu bewerkstelligen. Wenn ich zum Beispiel ein Feuer machen möchte, dann könnte ich das mit Hitze tun, die ich der Luft oder dem Boden entziehe; ich könnte eine Flamme aus reiner Energie erschaffen; ich könnte einen Blitzschlag herabfahren lassen; ich könnte ein Bündel von Sonnenstrahlen auf einen einzigen Punkt richten; ich könnte Reibung einsetzen und so weiter.«
»Ja, und?«
»Das Problem ist, ich kann zwar die verschiedensten Zauber wirken, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, aber um alle diese Zauber zu blockieren,braucht man möglicherweise nur einen einzigen Gegenzauber. Wenn man verhindert, dass eine magische Handlung überhaupt stattfindet, braucht man keinen maßgeschneiderten Gegenzauber, um den jeweiligen Zauber zu bekämpfen.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was das Ganze mit morgen zu tun hat.«
Ich schon, sagte Saphira zu ihnen beiden. Sie hatte den Zusammenhang sofort begriffen. Es bedeutet, dass Galbatorix im Laufe des letzten Jahrhunderts...
»... eine ganze Reihe von Schutzzaubern um die Ra’zac platziert haben könnte...«
... die sie vor allen …
»... möglichen magischen Attacken abschirmen. Wahrscheinlich werde ich nicht...«
... in der Lage sein, sie mit irgendwelchen...
»... Worten des Todes zu vernichten, ebenso wenig...«
... mit Angriffstechniken, die wir uns neu ausdenken. Es könnte sein...
»... dass wir uns auf unsere gute alte...«
»Hört auf!«, rief Roran. Er lächelte gequält. »Bitte, hört auf. Mir schwirrt der Kopf, wenn ihr das tut.«
Eragon hielt mit offenem Mund inne. Bis zu diesem Moment hatte er gar nicht bemerkt, dass er und Saphira abwechselnd sprachen. Die Erkenntnis freute ihn: Es zeigte, dass sie eine neue Stufe der Zusammenarbeit erreicht hatten und gemeinsam wie eine Einheit agierten - und dadurch weitaus machtvoller waren, als jeder alleine gewesen wäre. Gleichzeitig beunruhigte es ihn auch ein bisschen, wenn er daran dachte, dass eine so enge Partnerschaft den Beteiligten unweigerlich einen Teil ihrer Persönlichkeit rauben musste.
Er klappte den Mund zu und lächelte. »Tut mir leid. Was mir Sorgen bereitet, ist Folgendes: Falls Galbatorix den Weitblick hatte, gewisse Vorkehrungen zu treffen, dann könnte der Einsatz gewöhnlicher Waffen das einzige Mittel sein, um die Ra’zac zu vernichten. Sollte es tatsächlich so kommen...«
»... dann stünde ich euch morgen nur im Weg.«
»Unsinn. Du magst langsamer sein als die Ra’zac, aber ich hege keinen Zweifel, dass du sie mit der Waffe deiner Wahl das Fürchten lehren wirst, Roran Hammerfaust.« Das Kompliment schien Roran zu freuen. »Die größte Gefahr für dich besteht darin, dass es den Ra’zac oder ihren Flugrössern gelingt, dich von mir und Saphira zu trennen. Je enger wir zusammenbleiben, desto sicherer sind wir. Saphira und ich werden versuchen, unsere Gegner permanent zu beschäftigen, aber der eine oder andere könnte uns schon mal entwischen. Also sei auf der Hut.«
Zu Saphira sagte Eragon: Ich bin mir sicher, dass ich die Ra’zac mit einem Schwert erledigen könnte, aber ich weiß nicht, ob ich zwei Wesen, die so schnell sind wie Elfen, mit nichts weiter als einem Stab besiegen kann.
Du warst derjenige, der darauf bestanden hat, diesen trockenen Ast zu tragen anstatt einer richtigen Waffe, entgegnete sie. Ich habe dich gewarnt, dass das gegen Feinde nicht reichen könnte, die so gefährlich sind wie die Ra’zac.
Widerwillig gab Eragon ihr recht. Falls meine Magie versagt, werden wir viel verwundbarer sein, als ich erwartet habe... In der Tat könnte der morgige Tag ein wirklich schlimmes Ende nehmen.
Roran führte den Teil des Gesprächs fort, den er hatte hören können. »Diese Magie ist eine haarige Angelegenheit.« Der Baumstumpf, auf dem er saß, gab ein lang gezogenes Ächzen von sich, als Roran sich mit den Ellbogen auf den Knien abstützte.
»Allerdings«, stimmte Eragon zu. »Am schwierigsten ist es, jeden Zauber, den man benötigen könnte, auch parat zu haben. Während meiner Ausbildung habe ich ständig nachgefragt, wie ich worauf zu reagieren hätte und ob ein gegnerischer Magier nicht einen bestimmten Kniff von mir erwarten würde und mich so in eine Falle locken könnte.«
»Könntest du mich genauso stark und schnell machen, wie du es bist?«
Eragon dachte mehrere Minuten über die Frage nach, bevor er antwortete: »Ich wüsste nicht, wie das funktionieren soll. Die dafür benötigte Energie muss ja von irgendwoher kommen. Saphira und ich könnten sie dir zwar geben, aber dann würden wir genau das Maß an Kraft und Schnelligkeit verlieren, das du gewinnst.« Er verschwieg seinem Cousin jedoch, dass man auch den Tieren und Pflanzen in der Umgebung Energie entziehen konnte, wenn auch zu einem schrecklichen Preis, nämlich dem Tod kleinerer Geschöpfe, deren Lebenskraft man anzapfte. Diese Technik war ein großes Geheimnis, und Eragon fand, dass er es nicht leichtfertig preisgeben sollte, wenn überhaupt. Außerdem würde es Roran nichts nützen, denn am Helgrind wuchsen zu wenige Pflanzen und lebten zu wenige Tiere, um den Körper eines Menschen zu versorgen.
»Kannst du mir dann beibringen, wie man Magie gebraucht?« Als Eragon zögerte, fügte Roran hinzu: »Natürlich nicht jetzt. Dazu fehlt uns die Zeit, und ich erwarte auch nicht, dass man über Nacht zum Magier wird. Aber vielleicht irgendwann mal? Du und ich, wir sind Cousins. In unseren Adern fließt das gleiche Blut. Und es wäre eine nützliche Fertigkeit.«
»Ich weiß nicht, wie jemand, der kein Drachenreiter ist, Magie erlernt«, gestand Eragon. »Es ist nichts, was ich studiert hätte.« Er sah sich kurz um, hob einen flachen, runden Stein auf und warf ihn Roran zu. »Da, versuch es einfach. Konzentrier dich darauf, den Stein in der Luft schweben zu lassen, eine Armlänge über dem Boden, und sag: Stenr rïsa.«
»Stenr rïsa?«
»Genau.«
Stirnrunzelnd betrachtete Roran den Stein auf seiner Handfläche, und während Eragon seinen Cousin beobachtete, fühlte er sich an seine eigene Ausbildung erinnert. Er verspürte eine nostalgische Sehnsucht nach den Tagen, als Brom ihn gedrillt hatte.
Rorans Augenbrauen stießen aneinander, seine Lippen verzogen sich und er knurrte: »Stenr rïsa!«, und zwar mit einer solchen Intensität, dass Eragon schon fast erwartete, dass der Stein in die Höhe schießen würde.
Nichts geschah.
Mit einem Gesicht, das noch finsterer war, wiederholte Roran den Befehl: »Stenr rïsa!«
Der Stein ließ nicht den Hauch einer Bewegung erkennen. »Nun«, sagte Eragon, »versuch es einfach weiter. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Aber«, und hier hob er einen mahnenden Finger, »falls es dir gelingen sollte, komm sofort zu mir, und falls das nicht geht, dann wende dich an einen anderen Magier. Man kann sich und andere umbringen, wenn man mit Magie herumexperimentiert, ohne die Regeln zu kennen. Und Folgendes musst du dir unbedingt merken: Wenn man einen Zauber wirkt, der einen zu viel Kraft kostet, dann stirbt man. Versuche dich nicht an Aufgaben, die deine Fähigkeiten übersteigen, versuche nicht, die Toten zum Leben zu erwecken oder Dinge ungeschehen zu machen.«
Roran nickte, den Blick noch immer auf den Stein geheftet.
»Wenn wir schon dabei sind, mir fällt gerade noch etwas viel Wichtigeres ein, was du lernen musst.«
»Ach?«
»Ja, du musst imstande sein, deine Gedanken vor der Schwarzen Hand, der Du Vrangr Gata und ähnlichen Leuten zu verbergen. Du weißt jetzt viele Dinge, was den Varden schaden könnte. Deshalb ist es entscheidend, dass du diese Fertigkeit bei unserer Rückkehr beherrschst. Solange du dich nicht vor Spionen schützen kannst, dürfen weder Nasuada noch ich oder irgendjemand sonst dir Informationen anvertrauen, die unseren Feinden helfen könnten.«
»Verstehe. Aber warum nennst du ausgerechnet die Du Vrangr Gata? Sie dienen doch dir und Nasuada.«
»Das stimmt. Aber selbst unter unseren Verbündeten gibt es gar nicht wenige, die ihren rechten Arm dafür geben würden, unsere Pläne und Geheimnisse zu erfahren. Und wenn ich ›unsere‹ sage, dann schließt das dich mit ein. Du bist jetzt jemand, Roran. Teils wegen deiner Heldentaten und teils, weil wir miteinander verwandt sind.«
»Ich weiß. Es ist seltsam, wenn einen Leute erkennen, denen man noch nie begegnet ist.«
»Stimmt.« Eragon lag noch mehr auf der Zunge, aber er verkniff sich jede weitere Bemerkung. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, das Thema zu vertiefen. »Nachdem du nun weißt, wie es sich anfühlt, wenn ein Geist einen anderen berührt, könntest du eventuell lernen, umgekehrt mit deinem Geist in ein fremdes Bewusstsein einzudringen.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich diese Fähigkeit haben möchte.«
»Das spielt keine Rolle. Vielleicht bist du auch gar nicht imstande dazu. Bevor du das herausfindest, solltest du dich erst einmal der Kunst des Abschirmens widmen.«
Sein Cousin hob eine Augenbraue. »Wie denn?«
»Wähle etwas aus - ein Geräusch, ein Bild, ein Gefühl, irgendetwas - und lass es in deinem Kopf wachsen, bis es alle anderen Gedanken verdrängt.«
»Das ist alles?«
»Es ist nicht so leicht, wie es klingt. Versuch es einfach mal. Wenn du so weit bist, gib mir ein Zeichen, und dann sehen wir, wie gut du dich schlägst.«
Einige Momente verstrichen. Dann, auf Rorans Fingerschnippen hin, ließ Eragon sein Bewusstsein auf seinen Cousin zuschnellen, gespannt darauf, was der vollbracht hatte.
Eragons geistiger Strahl prallte mit voller Wucht gegen einen Wall aus Rorans Erinnerungen an Katrina und rutschte daran ab. Es gab keinen Halt, keinen Ansatzpunkt oder Zugang für ihn und er konnte auch nicht unter der undurchdringlichen Barriere vor ihm hindurchschlüpfen. In diesem Augenblick bestand Rorans Wesen allein aus seinen Gefühlen für Katrina. Seine Abschirmung übertraf alles, was Eragon bis dahin untergekommen war, denn in Rorans Geist gab es nichts, was er als Hebel hätte benutzen können, um Kontrolle über seinen Cousin zu gewinnen.
Dann bewegte Roran sein linkes Bein und das Holz unter ihm ächzte vernehmlich.
Dadurch zersprang der Wall, gegen den Eragon sich geschleudert hatte, in Dutzende Stücke, während eine Fülle widerstreitender Gedanken Roran ablenkte. Was war das... Verdammt! Achte nicht darauf, sonst bricht er durch. Katrina, denk an Katrina. Ignoriere Eragon. Die Nacht, als sie meinen Antrag annahm, der Duft des Grases und ihres Haars... Ist er das? Nein! Konzentrier dich! Nicht...
Eragon nutzte Rorans Verwirrung aus, drang in seinen Geist ein und machte ihn kraft seines Willens bewegungsunfähig, bevor sein Cousin sich wieder vor ihm verschließen konnte.
Das grundlegende Konzept hast du verstanden, sagte Eragon, dann zog er sich aus Rorans Kopf zurück und sagte laut: »Aber du musst lernen, selbst mitten in einer Schlacht deine Konzentration aufrechtzuerhalten. Du musst lernen zu denken, ohne zu denken... Du musst dich aller Hoffnungen und Sorgen entledigen und nur den einen Gedanken in dir tragen, der deinen Schutzwall bildet. Die Elfen haben mir beigebracht, ein Gedicht oder eine Liedzeile aufzusagen, irgendetwas, das man ständig wiederholen kann. Das war sehr hilfreich für mich. Es verhindert, dass der Geist abschweift.«
»Ich werde daran arbeiten«, versprach Roran.
Mit ruhigerer Stimme sagte Eragon: »Du liebst sie aus ganzem Herzen, nicht wahr?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, die Antwort lag ja auf der Hand. Das Thema verunsicherte Eragon ein wenig. Über die Liebe hatten er und sein Cousin noch nie geredet, ungeachtet der vielen Stunden, die sie früher damit verbracht hatten, über die Vorzüge der jungen Frauen in und um Carvahall zu diskutieren. »Wie kam es dazu?«
»Ich mochte sie. Sie mochte mich. Sind Einzelheiten da so wichtig?«
»Ach komm schon«, sagte Eragon. »Ich war zu sauer, um dich zu fragen, bevor du nach Therinsford gegangen bist, und seitdem haben wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich bin einfach neugierig.«
Die Haut um Rorans Augen straffte sich und legte sich in viele Fältchen, während er sich die Schläfen massierte. »Eigentlich gibt’s da nicht viel zu erzählen. Sie hat mir schon immer gefallen. Es war nicht weiter wichtig, bevor ich zum Mann wurde, aber nach meiner Initiation begann ich mich zu fragen, wen ich heiraten würde und wer die Mutter meiner Kinder werden sollte. Bei einem unserer Besuche in Carvahall beobachtete ich, wie Katrina neben Lorings Haus stehen blieb und eine Moosrose pflückte, die im Schatten des Dachfußes wuchs. Sie lächelte, während sie die Blume betrachtete... Es war so ein zartes und glückliches Lächeln, dass ich auf der Stelle beschloss, ich würde sie wieder und wieder dazu bringen, so zu lächeln. Ich wollte dieses Lächeln jeden Tag bis an mein Lebensende sehen.« In Rorans Augen schimmerten Tränen, doch im nächsten Augenblick blinzelte er und sie waren wieder verschwunden. »Ich fürchte, in dieser Hinsicht habe ich versagt.«
Nach einer angemessenen Pause sagte Eragon: »Du hast ihr also den Hof gemacht. Aber mal davon abgesehen, dass ich Katrina immer deine Komplimente ausrichten musste, wie hast du es im Einzelnen angestellt?«
»Du fragst wie jemand, der Unterweisung braucht.«
»Ach was. Das bildest du dir bloß ein...«
»Jetzt bist du aber dran«, sagte Roran. »Ich weiß, wenn du lügst. Dann grinst du so dümmlich und deine Ohren werden ganz rot. Die Elfen haben dir vielleicht ein neues Gesicht gegeben, aber dieser Teil von dir hat sich nicht geändert. Was ist da zwischen dir und Arya?«
Rorans scharfe Beobachtungsgabe ärgerte Eragon. »Nichts! Der Mond hat deinen Geist verwirrt.«
»Gib’s zu. Du hängst an ihren Lippen, als wäre jedes ihrer Worte ein Diamant, und dein Blick klebt an ihr, als wärst du am Verhungern und sie ein Festmahl, das einen Zollbreit außerhalb deiner Reichweite steht.«
Graue Rauchwölkchen quollen aus Saphiras Nüstern, als sie ein ersticktes Hüsteln von sich gab.
Eragon beachtete sie nicht und sagte: »Arya ist eine Elfe.«
»Und zwar eine wunderschöne. Spitze Ohren und schräg stehende Augen sind nur geringfügige Make, verglichen mit ihren zahlreichen Vorzügen. Du siehst ja jetzt selbst aus wie eine Katze.«
»Arya ist über hundert Jahre alt.«
Roran war baff; seine Augenbrauen hoben sich und er sagte: »Das glaube ich nicht! Sie steht in der Blüte ihrer Jugend.«
»Doch, es stimmt.«
»Nun, das mag ja sein. Das sind vielleicht alles gute Gründe, Eragon, aber das Herz lässt sich nur selten von der Vernunft leiten. Also, stehst du auf sie oder nicht?«
Falls er auch nur ein kleines bisschen mehr auf sie stehen würde, sagte Saphira zu Eragon und Roran, müsste ich Arya selbst abknutschen.
Saphira! Beschämt schlug Eragon ihr aufs Bein.
Roran war umsichtig genug, Eragon nicht weiter aufzuziehen. »Dann beantworte wenigstens meine ursprüngliche Frage und erzähl mir, wie die Dinge zwischen dir und Arya stehen. Hast du mit ihr oder ihrer Familie über deine Gefühle gesprochen? Ich habe festgestellt, wie unklug es ist, in solchen Angelegenheiten zu lange zu warten.«
»Tja«, sagte Eragon und starrte auf den langen Rotdornstab. »Ich habe mit ihr gesprochen.«
»Und was kam dabei heraus?« Als Eragon nicht umgehend antwortete, rief Roran frustriert: »Dir Antworten zu entlocken, ist anstrengender, als Birka durch den Schlamm zu ziehen.«
Eragon gluckste bei der Erwähnung Birkas, eins ihrer Zugpferde.
»Saphira, würdest du bitte dieses Rätsel für mich lösen? Ich fürchte, ich kriege ansonsten nie eine zufriedenstellende Erklärung.«
»Es ist vergeblich. Absolut hoffnungslos. Sie wird mich nicht erhören.« Eragons Stimme klang teilnahmslos, als spräche er über das Pech eines Fremden, doch in ihm tobte ein Sturm verletzter Gefühle, so gewaltig und wild, dass er fühlte, wie Saphira sich etwas aus ihm zurückzog.
»Das tut mir leid.«
Eragon zwang sich, den Kloß hinunterzuschlucken, der ihm im Hals steckte, und sein wundes Herz zu ignorieren. »So ist es nun mal.«
»Ich weiß, im Moment erscheint es dir unmöglich«, sagte Roran, »aber eines Tages wirst du eine andere Frau kennenlernen, die dich diese Arya vergessen lässt. Es gibt zahllose unverheiratete Kandidatinnen - und nicht wenige Verheiratete -, die sich mit Freuden einem Drachenreiter hingeben würden. Du wirst kein Problem haben, unter all den hübschen Dingern in Alagaësia die richtige Frau zu finden.«
»Und was hättest du getan, wenn Katrina dich abgewiesen hätte?«
Die Frage erwischte Roran eiskalt. Es war offensichtlich, dass er sich überhaupt nicht vorstellen konnte, wie er reagiert hätte.
Eragon fuhr fort: »Im Gegensatz dazu, was du, Arya und alle anderen zu glauben scheinen, ist mir durchaus bewusst, dass es in Alagaësia noch andere Frauen gibt, die für mich infrage kämen. Und dass Menschen sich im Leben mehr als einmal verlieben können, ist mir auch bekannt. Wenn ich meine Zeit in Gesellschaft der Damen an König Orrins Hof verbrächte, könnte ich zweifellos an einer von ihnen Gefallen finden, denke ich. Aber so einfach ist mein Weg nicht. Selbst wenn ich meine Zuneigung einer anderen schenken könnte - und das Herz ist, wie du ganz richtig bemerkt hast, ein äußerst widerspenstiges Biest -, bleibt immer noch die Frage: Sollte ich das?«
»Deine Zunge ist so verschlungen wie die Wurzeln einer Tanne«, sagte Roran. »Drück dich nicht so rätselhaft aus.«
»Na gut: Welche Menschenfrau könnte auch nur im Ansatz begreifen, wer und was ich bin, oder das Ausmaß meiner Kräfte nachvollziehen? Wer könnte an meinem Leben teilhaben? Nur wenige und es wären alles Magier. Und wie viele von ihnen oder wie viele Frauen im Allgemeinen sind unsterblich?«
Rorans raues Lachen hallte durch die enge Schlucht. »Du könntest ebenso gut darum bitten, dir die Sonne in die Hosentasche stecken zu dürfen oder...« Er machte eine Pause und spannte die. Muskeln wie zum Sprung. Dann wurde er unnatürlich still. »Das kann nicht sein.«
»Doch, es ist so.«
Roran rang nach Worten. »Ist es Teil deiner Verwandlung in Ellesméra oder kommt es daher, dass du ein Drachenreiter bist?«
»Letzteres.«
»Das erklärt, warum Galbatorix nicht längst gestorben ist.«
»So ist es.«
Der Ast, den Roran ins Feuer geworfen hatte, barst mit einem dumpfen Knacken, nachdem er von der Glut so erhitzt worden war, dass ein letzter Rest Feuchtigkeit, der den Sonnenstrahlen seit Jahrzehnten entgangen war, zu Dampf explodierte.
»Die Vorstellung ist so... gewaltig, fast undenkbar«, sagte Roran. »Der Tod ist ein Teil von uns. Er führt uns. Formt uns. Treibt uns in den Wahnsinn. Bist du denn überhaupt noch ein Mensch, wenn dich kein sterbliches Ende erwartet?«
»Ich bin nicht unbesiegbar«, gab Eragon zu bedenken. »Ich kann durch ein Schwert oder einen Pfeil getötet werden. Oder eine unheilbare Krankheit bekommen.«
»Aber wenn du diese Gefahren meidest, lebst du ewig.«
»Falls mir das gelingt, dann ja. Saphira und ich werden die Zeit überdauern
»Es scheint gleichzeitig ein Segen und ein Fluch zu sein.«
»Ja. Ich kann nicht guten Gewissens eine Frau heiraten, die älter wird und schließlich stirbt, während ich von der Zeit unberührt bleibe. Eine solche Erfahrung wäre grausam für uns beide. Darüber hinaus finde ich den Gedanken, mir über die Jahrhunderte eine Frau nach der anderen zu nehmen, ziemlich deprimierend.«
»Könntest du sie nicht mit Magie unsterblich machen?«, fragte Roran.
»Man kann weißes Haar verdunkeln, man kann Falten glätten und Erblindungen rückgängig machen. Wenn man gewillt ist, bis zum Äußersten zu gehen, kann man sogar einem Sechzigjährigen den Körper eines Jünglings geben. Doch die Elfen haben nie einen Weg gefunden, den Geist einer Person zu verjüngen, ohne ihre Erinnerungen auszulöschen. Und wer möchte schon alle paar Jahrzehnte seine Identität verlieren, im Tausch gegen Unsterblichkeit? Ein altes Hirn in einem jungen Körper ist auch keine Lösung, denn so, wie der Mensch geschaffen ist, kann er selbst bei bester Gesundheit nur ein Jahrhundert oder ein wenig länger überdauern. Ebenso wenig kann man den Alterungsprozess einfach anhalten. Das würde eine Fülle an schwerwiegenden Problemen nach sich ziehen... Oh, die Elfen und Menschen haben tausendundeine Methode ausprobiert, den Tod zu überlisten, aber keine davon hat sich als erfolgreich erwiesen.«
»Mit anderen Worten«, sagte Roran, »für dich ist es sicherer, Arya zu lieben, als dein Herz womöglich an eine Menschenfrau zu verlieren.«
»Wen anderes als eine Elfe könnte ich heiraten? Besonders wenn man bedenkt, wie ich jetzt aussehe?« Eragon unterdrückte den Impuls, sich an die spitzen Ohren zu fassen, was ihm allmählich zur Gewohnheit wurde. »Als ich in Ellesméra gelebt habe, fiel es mir leicht, zu akzeptieren, wie die Drachen mein Äußeres verändert haben. Immerhin haben sie mir noch viele andere Geschenke gemacht. Außerdem waren die Elfen nach der Blutschwur-Zeremonie viel freundlicher zu mir. Erst als ich zu den Varden zurückkehrte, wurde mir bewusst, wie sehr ich mich verändert habe - und es quält mich. Ich bin kein richtiger Mensch mehr und auch kein richtiger Elf. Ich bin irgendetwas dazwischen, ein Mischling, ein Halbblut.«
»Kopf hoch!«, sagte Roran fröhlich. »Du brauchst dir vielleicht gar keine Sorgen darüber zu machen, dass du ewig leben könntest. Galbatorix, Murtagh, die Ra’zac oder selbst ein Soldat des Imperiums kann dir jederzeit den Garaus machen. Ein weiser Mensch denkt nicht an die Zukunft, sondern lacht und trinkt, solange er diese Welt noch genießen kann.«
»Ich weiß, was unser Vater dazu gesagt hätte.«
»Und er hätte uns einen ordentlichen Tritt in den Hintern verpasst.«
Sie lachten herzhaft. Dann stellte sich wie so oft Schweigen zwischen ihnen ein. Diese Kluft war zu gleichen Teilen auf Erschöpfung, ihre Vertrautheit und auch auf ein Gefühl von Fremdheit zurückzuführen - angesichts ihrer so unterschiedlichen Schicksale, wo ihr Leben doch einst in nahezu identischen Bahnen verlaufen war.
Ihr solltet euch schlafen legen, sagte Saphira zu Eragon und Roran. Es ist spät. Wir müssen früh aufstehen.
Eragon sah hinauf zum schwarzen Himmelsgewölbe und bestimmte die Zeit danach, wie weit die Sterne gewandert waren. Die Nacht war älter, als er erwartet hatte. »Ein guter Rat«, sagte er. »Ich wünschte nur, wir hätten noch ein paar Tage zum Ausruhen, bevor wir den Helgrind erstürmen. Die Schlacht auf den Brennenden Steppen hat Saphira und mich unsere ganze Kraft gekostet. Wir haben uns noch nicht wieder vollständig erholt, da wir gleich hierher geflogen sind und ich die letzten zwei Abende einen Teil meiner Kräfte in den Gürtel von Beloth dem Weisen übertragen habe. Mir tun noch immer alle Knochen weh, und ich habe mehr blaue Flecken, als ich zählen kann. Schau...« Er lockerte das Manschettenband an seinem linken Hemdsärmel, schob das Lámarae - einen weichen Elfenstoff aus über Kreuz gesponnenen Woll- und Nesselfäden - nach oben und zeigte Roran einen dunkelgelben Streifen, wo sein Schild gegen seinen Unterarm geprallt war.
»Ha!«, machte Roran. »Das kleine Ding nennst du einen blauen Fleck? Da hab ich mir ja mehr wehgetan, als ich mir heute Morgen den Zeh gestoßen habe. Hier, ich zeig dir eine Verletzung, auf die ein Mann stolz sein kann.« Er zog den linken Stiefel aus, rollte das Hosenbein hoch und deutete auf eine daumendicke schwarze Strieme, die quer über den Wadenmuskel verlief. »Da hat mich ein Speerschaft getroffen.«
»Beeindruckend, aber ich habe noch was Besseres.« Eragon schlüpfte aus dem Wams, zog das Hemd aus der Hose und drehte sich zur Seite, damit Roran die riesige Prellung an seinen Rippen und eine ähnliche Verfärbung am Bauch sehen konnte. »Pfeile«, erklärte er. Dann entblößte er den rechten Unterarm und offenbarte eine Verletzung, die der am anderen Arm ähnelte. Diesen Striemen hatte er abbekommen, als er mit der Armschiene ein Schwert abwehrte.
Als Nächstes zeigte Roran ihm eine Ansammlung blaugrüner Flecken, alle von der Größe einer Goldmünze, die von der linken Achselhöhle bis hinab zum Steiß verlief. Es war die Folge eines Sturzes auf einen Haufen Steine, zwischen denen Teile einer Rüstung gelegen hatten.
Eragon betrachtete die Verletzung, dann lachte er. »Pah, das sind ja winzige Stiche. Hast du dich verlaufen und bist in einen Rosenbusch gefallen? Ich zeig dir was, worauf du neidisch sein kannst.« Er zog die Stiefel aus, dann stand er auf und ließ die Hose runter, sodass er nur das Hemd und eine Wollunterhose trug. »Da kannst du nicht mithalten«, sagte er und deutete auf die Innenseiten seiner Schenkel. Die Haut dort war bunt gescheckt, als wäre Eragon eine exotische Frucht, die in unterschiedlichen Farben von Holzapfelgrün bis Fäulnisbraun reifte.
»Aua«, sagte Roran. »Wie ist denn das passiert?«
»Ich bin beim Luftkampf gegen Murtagh und Dorn von Saphira abgesprungen. Es gelang ihr, unter mir wegzutauchen und mich aufzufangen, kurz bevor ich am Boden aufgeschlagen wäre. Aber ich bin ein bisschen heftiger auf ihr gelandet, als ich wollte.«
Roran zuckte zusammen und zugleich schauderte er. »Geht es hoch bis zu deinem...« Er verstummte und machte eine vage Geste.
»Leider ja.«
»Ich muss zugeben, das ist wirklich eine bemerkenswerte Prellung. Darauf kannst du stolz sein. Es ist eine ziemliche Leistung, sich auf diese Weise zu verletzen und dann auch noch ausgerechnet an... dieser Stelle.«
»Es freut mich, dass du es zu schätzen weißt.«
»Nun«, sagte Roran, »du hast vielleicht den größten blauen Fleck, aber die Ra’zac haben mir eine Wunde beigebracht, der du nichts entgegenzusetzen hast, seit die Drachen dir, soweit ich weiß, deine Rückennarbe entfernt haben.« Während er sprach, zog er das Hemd aus und ging näher zum pulsierenden Licht der Glut.
Eragon riss erschrocken die Augen auf, bevor er sich dabei ertappte und eine gleichmütigere Miene aufsetzte. Er schalt sich für seine Überreaktion und dachte: So schlimm kann es nicht sein. Aber je länger er Roran betrachtete, desto bestürzter wurde er.
Eine lange, runzelige, rot glänzende Narbe wand sich um Rorans rechte Schulter. Sie begann am Schlüsselbein und zog sich genau bis zur Mitte des Arms. Man konnte erkennen, dass der Ra’zac einen Teil des Muskels durchtrennt hatte und die beiden Enden danach nicht mehr richtig zusammengewachsen waren. Ein hässlicher Knubbel entstellte die Haut unterhalb der Narbe, wo die Muskelfasern sich zusammengezogen hatten. Weiter oben war das Fleisch nach innen gesunken, sodass eine etwa fingerdicke Vertiefung entstanden war.
»Roran! Das hättest du mir längst zeigen sollen. Ich hatte keine Ahnung, dass der Ra’zac dich so schwer verletzt hat... Bereitet es dir Probleme, den Arm zu bewegen?«
»Zur Seite und nach hinten nicht«, sagte Roran. Er demonstrierte es ihm. »Aber nach vorne kann ich die Hand nur so hoch heben... bis auf Brusthöhe.« Er verzog das Gesicht und nahm den Arm wieder runter. »Selbst das ist mühselig. Ich muss den Daumen waagrecht halten, sonst wird der Arm taub. Am besten geht es, wenn ich ihn von hinten herumschwinge und auf dem Gegenstand landen lasse, den ich greifen will. Ich hab mir ein paarmal die Knöchel aufgeschlagen, bevor ich den Trick draufhatte.«
Eragon rollte den Stab zwischen seinen Händen. Soll ich?, fragte er Saphira.
Ich glaube, du musst.
Morgen könnten wir es bedauern.
Noch viel mehr würden wir es bedauern, wenn Roran stirbt, weil er seinen Hammer nicht richtig schwingen konnte. Wenn du die Energie den Lebewesen in unserer Umgebung entziehst, schonst du deine eigenen Kräfte.
Du weißt, wie ungern ich das tue. Schon darüber zu reden, macht mich krank.
Unser Leben ist wichtiger als das einer Ameise, konterte Saphira.
Das sieht die Ameise aber anders.
Du bist keine Ameise. Sei nicht so unbedacht, Eragon. Das passt nicht zu dir.
Seufzend legte Eragon den Stab nieder und winkte Roran heran. »Komm her, ich werde es dir heilen.«
»Dazu bist du fähig?«
»Sicher.«
Freude erhellte Rorans Züge, dann zögerte er jedoch und schien beunruhigt. »Jetzt? Ist das denn klug?«
»Wie Saphira sagt, es ist besser, die Verletzung zu heilen, solange noch Gelegenheit dazu ist, als zu riskieren, dass sie dich das Leben kostet oder uns in Gefahr bringt.«
Roran trat neben ihn und Eragon legte ihm die rechte Hand auf die Narbe. Gleichzeitig öffnete er seinen Geist, um die Bäume, Pflanzen und Tiere in der Schlucht mit einzuschließen; alle außer den schwächsten, die der Kraftentzug umbringen würde.
Dann begann er, in der alten Sprache zu singen. Die Beschwörung, die er rezitierte, war lang und kompliziert. Eine solche Verletzung zu heilen, ging weit darüber hinaus, neue Haut wachsen zu lassen, und war eine schwierige Angelegenheit. Dabei verließ Eragon sich auf die Heilformeln, die er in Ellesméra studiert und wochenlang auswendig gelernt hatte.
Das Silbermal auf Eragons Handfläche, die Gedwëy Ignasia, erglühte weiß, als er die Magie heraufbeschwor. Im nächsten Moment stöhnte er wehklagend auf, als auf dem Wacholderbaum hinter ihnen zwei kleine Vögel und eine zwischen den Steinen verborgene Schlange verendeten. Neben ihm warf Roran den Kopf zurück und fletschte die Zähne, während der Schultermuskel unter der straffen Haut erbebte und hin und her sprang wie ein lebendiges Wesen.
Dann war es vorbei.
Eragon nahm einen tiefen Atemzug, legte den Kopf in die Hände und wischte sich schnell die Tränen ab. Dann betrachtete er sein Werk. Er sah, wie Roran mehrmals kräftig mit den Schultern zuckte, wie er sich streckte und mit den Armen kreiste. Seine Schulterpartie war massiv und gestählt, das Resultat jahrelanger schwerer Feldarbeit. Überrascht verspürte Eragon einen Anflug von Neid. Er mochte stärker sein, aber er war nie so muskulös gewesen wie sein Cousin.
Roran grinste. »So gut wie neu. Vielleicht sogar besser als vorher. Ich danke dir.«
»Keine Ursache.«
»Es war ganz seltsam. Ich hab mich gefühlt, als würde ich aus mir herauskriechen. Und gejuckt hat es vielleicht. Ich hätte mir fast die Haut vom Leib gerissen -«
»Bring mir doch bitte ein Stück Brot aus der Satteltasche, ja? Ich bin hungrig.«
»Wir haben doch gerade erst gegessen.«
»Ich brauche einen Bissen, nachdem ich so einen Zauber gewirkt habe.« Eragon schniefte, dann zog er sein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. Er schniefte erneut. Er hatte nicht ganz die Wahrheit gesagt. Es war der von ihm herbeigeführte Tod der drei Tiere, der ihm zu schaffen machte, nicht der Zauber selbst; und er fürchtete, sich zu erbrechen, wenn er nicht sofort etwas in den Magen bekam.
»Du wirst doch nicht krank, oder?«, fragte Roran.
»Nein.« Noch immer erfüllt von Schuldgefühlen, griff Eragon nach der Tonflasche mit dem Met. Er hoffte, die düsteren Gedanken mit einem kräftigen Schluck hinunterspülen zu können.
Etwas sehr Großes, Schweres und Scharfes traf seine Hand und drückte sie zu Boden. Er zuckte zusammen und blickte auf eine von Saphiras elfenbeinfarbenen Klauen, die sich in sein Fleisch grub. Das dicke Lid der Drachendame glitt einmal über die große schimmernde Iris, mit der sie ihn fixierte. Nach einem langen Moment hob sie die Klaue, so wie ein Mensch einen Finger heben würde, und Eragon zog die Hand zurück. Er schluckte und griff wieder nach dem Rotdornstab. Er versuchte, den Gedanken an Met zu verdrängen und sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren, statt sich in seinem Selbsthass zu suhlen.
Roran holte einen halben Laib Sauerteigbrot aus der Tasche, dann hielt er inne und fragte mit dem Anflug eines Lächelns: »Möchtest du nicht lieber etwas Hirschfleisch? Ich hab es nicht ganz aufgegessen.« Er hielt ihm den behelfsmäßigen Bratspieß aus Wacholderbaumholz hin, an dem noch drei dicke goldbraune Fleischbrocken hingen. Für Eragons sensible Nase war der Duft, der ihm entgegenwallte, schwer und intensiv. Er erinnerte ihn an die Nächte, die er im Buckel verbracht hatte, und an Mahlzeiten an langen Winterabenden, als er, Roran und Garrow sich um den Ofen versammelt und die Gesellschaft der anderen genossen hatten, während draußen ein Sturm tobte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. »Es ist noch warm«, sagte Roran und wedelte mit dem Spieß vor Eragons Nase herum.
Eragon nahm seine ganze Willenskraft zusammen und schüttelte den Kopf. »Gib mir einfach das Brot.«
»Bist du sicher? Das Fleisch ist herrlich, ganz zart und würzig. Es ist so saftig, dass man beim Hineinbeißen glaubt, man hätte einen Löffel von Elains bestem Eintopf im Mund.«
»Trotzdem, ich kann nicht.«
»Du weißt, dass es dir schmecken würde.«
»Roran, hör auf, mich zu reizen, und gib mir das Brot!«
»Ah, jetzt siehst du schon viel besser aus. Vielleicht brauchst du ja gar kein Brot, sondern nur jemanden, der deine Laune etwas hebt, was?«
Eragon funkelte ihn an. Dann, schneller als man schauen konnte, riss er Roran das Brot aus der Hand.
Das schien Roran sogar noch mehr zu amüsieren. Während Eragon sich einen Bissen vom Laib abbrach, sagte sein Cousin: »Ich weiß gar nicht, wie du allein von Früchten, Brot und Gemüse leben kannst. Ein Mann muss doch Fleisch essen, wenn er sich seine Kraft erhalten will. Vermisst du es denn überhaupt nicht?«
»Mehr, als du dir vorstellen kannst.« »Aber warum quälst du dich dann so? Jedes Geschöpf auf der Welt muss andere Lebewesen essen, um zu überleben - selbst Pflanzen tun es. So sind wir nun mal beschaffen. Warum versuchst du, dich der natürlichen Ordnung der Dinge zu widersetzen?«
Ich habe ihm in Ellesméra das Gleiche gesagt, bemerkte Saphira, aber er hört ja nicht auf mich.
Eragon zuckte mit den Achseln. »Diese Diskussion hatten wir doch schon. Tut, was ihr wollt. Ich schreibe niemandem vor, wie er leben soll. Ich für meinen Teil kann aber nicht guten Gewissens ein Tier essen, dessen Gedanken und Gefühle ich geteilt habe.«
Saphiras Schwanzspitze zuckte und ihre Schuppen stießen geräuschvoll gegen einen verwitterten Felsblock, der aus dem Boden ragte. Oh, es ist hoffnungslos mit ihm. Sie reckte den Hals und schnappte Roran das Hirschfleisch samt Spieß aus der Hand. Das Holz knackte zwischen ihren gezackten Zähnen, als sie zubiss, dann verschwand es zusammen mit den Fleischbrocken in den feurigen Tiefen ihres Magens. Mmh. Du hast nicht übertrieben,sagte sie zu Roran. Was für ein saftiger Leckerbissen: so zart, so salzig. So überaus köstlich, dass ich vor Freude tanzen könnte. Du solltest öfter für mich kochen, Roran Hammerfaust. Aber beim nächsten Mal bereitest du am besten gleich mehrere Hirsche zu, damit ich auch satt werde.
Roran zögerte, als fürchte er, es könne ihr ernst sein mit ihrer Bitte, und überlege nun fieberhaft, wie er sich möglichst elegant vor dieser unerwünschten und leidigen Verpflichtung drücken könnte. Er sah Eragon flehend an, der lauthals lachte, sowohl über Rorans Miene als auch über dessen missliche Lage.
Saphiras volltönendes Lachen mischte sich unter Eragons und schallte durch die Schlucht. Ihre Zähne glänzten krapprot im Schein der Glut.
 
Eine Stunde, nachdem sich die drei zur Ruhe begeben hatten, lag Eragon auf dem Rücken neben Saphira, wegen der nächtlichen Kälte in mehrere Decken gehüllt. Alles war ruhig, nichts regte sich. Es schien, als hätte ein Magier die Welt mit einem Zauber belegt, sodass nun alle Lebewesen in einen ewigen Schlaf gesunken waren, um für alle Zeiten erstarrt und unveränderlich unter dem wachsamen Blick der funkelnden Sterne dazuliegen.
Ohne sich zu rühren, flüsterte Eragon im Geiste: Saphira?
Ja, Kleiner?
Was, wenn ich recht habe und er im Helgrind ist? Ich weiß nicht, was ich dann tun soll... Sag du es mir.
Das kann ich nicht, Kleiner. Diese Entscheidung musst du selbst treffen. Das Denken der Menschen ist anders als das der Drachen. Ich würde ihm den Kopf abreißen und mich an seinem Körper gütlich tun. Aber das erscheint dir sicher falsch.
Wirst du zu mir halten, egal wie ich mich entscheide?
Immer, Kleiner. Schlaf jetzt. Alles wird gut.
Beruhigt blickte Eragon in die Schwärze zwischen den Sternen, verlangsamte seine Atmung und glitt in eine Trance, die für ihn den Schlaf ersetzte. Er blieb sich seiner Umgebung bewusst, doch vor dem Hintergrund der weißen Sternbilder traten nun die Gestalten seiner Wachträume hervor und führten ihr verwirrendes schattenhaftes Stück auf, so wie sie es immer zu tun pflegten.

 

 

Die Weisheit des Feuers
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Die Weisheit des Feuers_split_000.html
Die Weisheit des Feuers_split_001.html
Die Weisheit des Feuers_split_002.html
Die Weisheit des Feuers_split_003.html
Die Weisheit des Feuers_split_004.html
Die Weisheit des Feuers_split_005.html
Die Weisheit des Feuers_split_006.html
Die Weisheit des Feuers_split_007.html
Die Weisheit des Feuers_split_008.html
Die Weisheit des Feuers_split_009.html
Die Weisheit des Feuers_split_010.html
Die Weisheit des Feuers_split_011.html
Die Weisheit des Feuers_split_012.html
Die Weisheit des Feuers_split_013.html
Die Weisheit des Feuers_split_014.html
Die Weisheit des Feuers_split_015.html
Die Weisheit des Feuers_split_016.html
Die Weisheit des Feuers_split_017.html
Die Weisheit des Feuers_split_018.html
Die Weisheit des Feuers_split_019.html
Die Weisheit des Feuers_split_020.html
Die Weisheit des Feuers_split_021.html
Die Weisheit des Feuers_split_022.html
Die Weisheit des Feuers_split_023.html
Die Weisheit des Feuers_split_024.html
Die Weisheit des Feuers_split_025.html
Die Weisheit des Feuers_split_026.html
Die Weisheit des Feuers_split_027.html
Die Weisheit des Feuers_split_028.html
Die Weisheit des Feuers_split_029.html
Die Weisheit des Feuers_split_030.html
Die Weisheit des Feuers_split_031.html
Die Weisheit des Feuers_split_032.html
Die Weisheit des Feuers_split_033.html
Die Weisheit des Feuers_split_034.html
Die Weisheit des Feuers_split_035.html
Die Weisheit des Feuers_split_036.html
Die Weisheit des Feuers_split_037.html
Die Weisheit des Feuers_split_038.html
Die Weisheit des Feuers_split_039.html
Die Weisheit des Feuers_split_040.html
Die Weisheit des Feuers_split_041.html
Die Weisheit des Feuers_split_042.html
Die Weisheit des Feuers_split_043.html
Die Weisheit des Feuers_split_044.html
Die Weisheit des Feuers_split_045.html
Die Weisheit des Feuers_split_046.html
Die Weisheit des Feuers_split_047.html
Die Weisheit des Feuers_split_048.html
Die Weisheit des Feuers_split_049.html
Die Weisheit des Feuers_split_050.html
Die Weisheit des Feuers_split_051.html
Die Weisheit des Feuers_split_052.html
Die Weisheit des Feuers_split_053.html
Die Weisheit des Feuers_split_054.html
Die Weisheit des Feuers_split_055.html
Die Weisheit des Feuers_split_056.html
Die Weisheit des Feuers_split_057.html
Die Weisheit des Feuers_split_058.html
Die Weisheit des Feuers_split_059.html
Die Weisheit des Feuers_split_060.html
Die Weisheit des Feuers_split_061.html
Die Weisheit des Feuers_split_062.html
Die Weisheit des Feuers_split_063.html
Die Weisheit des Feuers_split_064.html
Die Weisheit des Feuers_split_065.html
Die Weisheit des Feuers_split_066.html
Die Weisheit des Feuers_split_067.html
Die Weisheit des Feuers_split_068.html
Die Weisheit des Feuers_split_069.html
Die Weisheit des Feuers_split_070.html